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Die Puppe

in: EMMA
1998 , Heft: 6 , 90-91 S.

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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1998-6-a
Formatangabe: Erzählung
Link: Volltext
Verfasst von: Morgner, Irmtraud info
In: EMMA
Jahr: 1998
Heft: 6
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Zu den Gegebenheiten, die unseren offiziellen Alltag strukturieren, gehört das Feiern von Jahrestagen; zu den Gegebenheiten, die meinen privaten Alltag strukturieren, gehört schlechtes Gewissen wegen Unterlassungen. Private Unterlassungen aus Zeitmangel: Briefe, Besuche und Telefonate. Wobei ich das exponentielle Wachstum des Unterlassungsberges mitunter zu bremsen suchte, indem ich Besuche durch Telefonate ersetzte.

Daß ich ungeselliger wurde, hatte aber auch andere Gründe. Betreffs meiner Eltern zum Beispiel. Als ich Anfang April 1986 meine Eltern anrief - beim Nachbarn wie immer, Telefone sind für Vater Bürokrempel, also Faulenzergesöck, das er sich als Lokführer in seinen vier Wänden verbittet - meldete sich - auch wie immer - Mutter und sagte "Na?" Dieses nichtssagende Wort mit der allessagenden Mischung aus Vorwurf und Erwartung. Ich erkundigte mich nach dem Befinden. "Naja", sagte Mutter in der gleichen Mischung. Sie benutzt Interjektionen von je zweipolig, wodurch Spannung erzeugt wird. Vater benutzt die gleichen Interjektionen so, daß ein Sog entsteht. Ich fürchte beides. Seit der Kindheit schon. Der Sog macht aus Gold Kartoffeln. Die Spannung legt sich um die Mitte, setzt den Magen unter Druck und Angst in den Bauch. Gegen den allgemeinen Vorwurf der Mutter - in Berlin gibts alles -, ergänzt durch den besonderen - unsere Tochter macht sich immer rarer -, war ich aber gewappnet. Größere Gefahren sind kalkulierbar... Argumente kein Problem, erstmal Wogen glätten, dann Spannungslast abwerfen.

Also Angst und Magendruck wegdrücken, mit einer Nachricht, von der ich sicher war, daß sie Mutter freuen würde.

Ich erzählte ihr, daß ich mein Zimmer umgeräumt hätte, leergeräumt in einer Ecke, zwei Bücherregale raus und wohin mit ihnen - "wohin mit dem Krempel", sagte ich wörtlich - einstweilen hätte ich alles im Flur abgestellt, keine Lösung natürlich, aber Platz in der Bude für den Ehrenplatz meinem Schreibtisch gegenüber, demnächst hätte ich nämlich im Ausland zu tun, an einer Universität - meine Mutter fragte selbstverständlich nicht zurück, an welcher -, trotzdem murmelte ich - aus Feigheit natürlich - irgendwas von Seminarien über meine Bücher und Lesungen, die ich zu halten hätte. Nicht sobald. Aber ich müsse mich ja auch vorbereiten, nicht zuletzt auf die Fastnacht, wenn ich schon mal in Basel wäre zu der Zeit... Mitzumachen wäre zwar heikel, aber zusehen für meine Profession wie kneifen, ich müßte folglich ein Kostüm basteln, was natürlich von mir an mir nicht gesteckt werden könnte, sondern auf einer Puppe. Gäbe es eine schönere Gelegenheit, die Puppe zu Ehren kommen zu lassen...? "Welche Puppe", fragte meine Mutter. "Na die Schneiderpuppe", antwortete ich im Fluge wie zuvor. "Sie ist weg", sagte meine Mutter beiläufig.

Aber ich verlor nicht an Höhe, gewann sogar noch durch Aufwind, den ich eilig herstellte mit schönen Vorstellungen. Bisher hatte ich der Schneiderpuppe nur Harlekinroben angedacht, plötzlich sah ich sie im Einhornkostüm. Ein Habit, dessen Schwierigkeit eine lange Vorbereitungszeit noch besser rechtfertigte. Und ich glaubte mich unverstanden aus technischen Gründen, und ich vergewisserte mich, ob die Verbindung noch bestand, ob meine Mutter gut hören könnte...

"Sehr gut", sagte sie. "Aber manchmal knackts auch und rauschts in der Leitung", sagte ich, "also deine Schneiderpuppe, die auf dem Spitzboden steht, als wir sie neulich ausgewickelt und besser eingepackt haben, damit sie nicht verdreckt, hat sie hinter der Bettkiste gestanden, du weißt doch ..." "Freilich."

"Und irgendwelche Postmietbehälter, die Vater wieder vorschlug, als wir dann über den Hertransport sprachen, sind auch nicht mehr nötig, dein Enkel Wesselin holt das gute Stück..." "Die Puppe ist weg", sagte meine Mutter, indem sie jedem Wort einzeln Gewicht nahm, wodurch aus einer Summe von Beiläufigkeit eine Wucht aus Nichts entstand.

Drin das Einhorn: ein Tier, das es nicht gibt.

Größere Gefahren sind kalkulierbar, sie bereiten abwehrende Haltungen und Handlungen in uns vor, stellen Kräfte bereit, Argumente. Nebensächlichkeiten hingegen können Panik auslösen. "Wenn man zur Bodentür reinkommt, gleich rechts hinter der Bettkiste zwischen den Wäschekörben und Koffern...", stotterte ich. "Die vielen Koffer brauchen wir auch nicht mehr...", sagte meine Mutter. Und da war sie im Recht. Und wo war ich?

Ich verteidigte meine Mutter und mich mit der Vermutung: Einbruch. "Ach wo", beruhigte meine Mutter, "in unserer Bodenkammer gibts doch nichts zu mausen."

"Aber deine Schneiderpuppe", sagte ich. "Die Schneiderpuppe ist verkauft", sagte meine Mutter unter Beihaltung des Beruhigungstons. Ich habe ihn seitdem im Ohr, und ich kann ihn ebenso wenig loswerden wie das Gefühl des unfreien Falls. Aus großer Höhe. "Das ist mir zu hoch", pflegt mein Vater stolz zu sagen, wenn ihm etwas nicht in den Kram paßt. Mein Kram zum Beispiel. Warum habe ich nie entgegnet: "Das ist mir zu tief? Auch jetzt nicht, da meine Mutter die Redeweise meines Vaters angenommen hatte, obgleich sie Trott haßte. Ich entgegnete: "Wenn ich gewußt hätte, daß ihr Geld braucht..." "Geld", hörte ich unter Gelächter, "Geld, alte Leute brauchen kein Geld..." "Wieso denn - zum Essen." "Wir essen nich mehr viel..." "Aber mal was Delikates ausm Delikat, du sagst doch, mit dem bißchen Rente..." "Für uns langts, solche alten Leute wie wir könn' doch nischt mehr vertun, ich möcht bloß wissen, was mit dem Batzen werden soll, den dein Vater auf der Sparkasse liegen hat, der braucht doch nischt Neues, andere Leute machen Einkaufsfahrten nach Berlin, aber Dein Vater hat sich noch nie für was Neues interessiert..." "Was Neues" ist für meine Mutter was Neues zum Kaufen, Interesse für eine Stadt: gucken, was in der Auslage ihrer Geschäfte hängt.

"Unser Hausverwalter, der Gauner, macht auch jede Mode mit und stellt sich neuerdings Antiquitäten in die Wohnung", sagte meine Mutter, "Aber ich wollte mir doch deine Schneiderpuppe nicht in die Wohnung stellen, weils modern ist oder weils eine Antiquität ist - wahrscheinlich hat euch jemand reingelegt. Einer hat den Braten gerochen und euch eingeseift, und ihr hattet keinen Mumm, nein zu sagen..." Meine Mutter räumte ein, daß ich im Märchen-Ausdenken immer groß gewesen wäre, aber natürlich auf dem falschen Dampfer. "Eine Annonce..."

"Ihr habt annonciert", schrie ich. "Wir? Erlaube mal, wir haben in unserem Leben noch nie annonciert, nein, nein, ganz normal, Vater hat in der Zeitung eine Annonce gelesen so und so und jemand sucht eine Schneiderpuppe Größe 42, und da hat er gedacht..." "Und du? Was hast Du gedacht?" "Wieso ich?"

"Aber es war doch deine Schneiderpuppe, Mutter, nicht seine: deine! mit der du vierzehnjährig die Lehre angetreten hast... Oder habt ihr plötzlich eure Bodenkammer abtreten müssen..." "Iwo, Unsinn - aber wie das so ist, und du kennst doch deinen Vater..." "Ich kenn ihn, aber du kennst ihn auch und seinen Weglaßfimmel, weshalb ich euch immer wieder eingeschärft habe... zuletzt an Weihnachten..." "Nuja", sagte meine Mutter. Wieder eine von den zweipoligen Interjektionen. Für den unfreien Fall. In die Falle der Banalität: eine Hölle für mich, in der sich meine Eltern eingerichtet hatten. "Nuja, eine Schneiderpuppe ist sowieso nischt für eine Wohnung, bei der Frau, die sie gekauft hat, steht sie auch in der Bodenkammer, mit dem alten Dings hättest Du dein Zimmer verhunzt..." "Mit einem Erinnerungsstück..." "Das schöne Zimmer - steht so schon genug Krempel drin." Krempel: mein Wort. Eben meiner Mutter zugespielt. Meine Eltern nannten ihr Wohnzimmer "Gute Stube", und ich nannte mein Arbeitszimmer "Bude" - für sie: wie sie. "Die junge Frau ist auch keine Schneiderin", sagte meine Mutter, "hat sich wahrscheinlich bißchen was angeeignet, sie näht für sich, hat sie gesagt, naja, das sagen viele, sogar die Engelbrechten, aber du - was willst du denn mit einer Schneiderpuppe, wenn du gar nicht schneidern kannst, und zum Nähen hast Du auch nie Zeit ..." "Manchmal schon", sagte ich, "für Kostüme schon."

"Kostieme", wiederholte meine Mutter mundartlich. Auch Künstler und küssen sprach sie mundartlich aus. Mitten in hochdeutschen Sätzen mitunter Kienstler und ganz selten Kissen, und Kostieme bisher ausschließlich um das zu benennen, womit diese Engelbrechten sich "anscheußelte"...

"Außerdem bist du für meine Puppe viel zu dick", sagte meine Mutter, "zweiundvierzig". "Ich hab Konfektionsgröße vierzig", erinnere ich, "Seit wann?" "Seit dreißig Jahren", sagte ich. "Vierzig ist viel zu dürr, so dürr warst du bei mir nie, bei mir hast du immer was Richtiges zu essen gekriegt, du bist abgekommen, weil du zu bequem bist zum Kochen, lebst wohl von Schrippen wie die Engelbrechten und ihr Freund..." Das letzte Wort auch mundartlich, also "Freind", weil gemunkelt wurde, der Alte wäre ein "Dichter" und hätte nur einen Reisekorb voll Bücher, und die Alte würde auch lieber lesen und frieren als heizen, und zusammenwohnen würde das Pärchen auch nicht, eine feine Wirtschaft pflegte meine Mutter zu sagen. Sie haßt Männer und die Ehe und von den Frauen am meisten die unverheirateten. Und mein Vater pflegte zu sagen: "Die Schlampe und der Kienstler passen zusammen wien Paar alte Latschen." An diesen Gepflogenheiten hatten weder meine Arbeit als Triebwagenfahrerin noch meine Nähereien noch meine Eisenbahner und Schneiderinnen in meinen Büchern etwas ändern können. Schon weil meine Eltern keine Bücher lasen.

"Jugendstil, Mutter...", schrie ich. "Ja ja, altmodisch, nischt wert...", hörte ich. "Und wieviel hat die Frau bezahlt?" "Vierzehn", sagte meine Mutter. "Das ist viel", sagte ich. "Viel? Nu wir dachten, fünfzehn könnte man schon verlangen, aber die junge Frau hat nicht mit sich handeln lassen und nur vierzehn gegeben." "Vierzehnhundert Mark", wiederholte ich staunend.

"Vierzehn Mark", korrigierte meine Mutter.

Daran erinnere ich mich genau. Auch diese Worte hab ich noch im Ohr und krieg sie nicht mehr raus. Vom Rest des Telefongesprächs erlöste mich Taubheit.
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