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Ich bin da, mein Herz schlägt : das Ende einer Legende

Verfasst von: Schwarzer, Alice info
in: EMMA
1995 , Heft: 5 , 84-88 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1995-5-a
Formatangabe: Porträt
Link: Volltext
Verfasst von: Schwarzer, Alice info
In: EMMA
Jahr: 1995
Heft: 5
Beschreibung: Ill.
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Sie tat mehr als nur teilen - sie schenkte ihm ihre Ideen.

Alice Schwarzer war mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre seit 1971 befreundet. Sie führte mit beiden 1973 das erste Gespräch über die Spielregeln ihrer Beziehung und die Rolle der "Dritten" (TV-Porträt "Simone de Beauvoir" sowie Emma-Sonderband und Rowohlt-TB "Sexualität"). Gerade zu den Fragen Kreativität und Sexualität waren Beauvoir und Schwarzer bis zu Beauvoirs Tod 1986 eng im Gespräch.

Sie waren über ein halbes Jahrhundert lang zugleich Mythos und Modell für mehrere Generationen. Eine Frau und ein Mann, die in Freiheit miteinander lebten, dachten und handelten: die SchriftstellerInnen und PhilosophInnen Simone de Beauvoir (1908-1986) und Jean-Paul Sartre (1905-1980). Sie liebten sich, wohnten aber nie zusammen; sie blieben sich treu, hatten aber andere Beziehungen; sie dachten und schrieben zu zweit und allein, sie erkundeten die Welt gemeinsam und getrennt, sie engagierten sich politisch zusammen und ein jeder für sich. Sie waren eine Frau und ein Mann, ja sogar ein Paar, aber dennoch zwei Individuen.

Simone de Beauvoirs Position war für eine Frau des 20. Jahrhunderts außergewöhnlich, auch wenn Jean-Paul Sartre den meisten als der Kopf der Beziehung galt. Er galt als Schöpfer des Existentialismus, der Philosophie, Politik und Seinsweise der Nachkriegszeit entscheidend prägte. Und sie war die bedeutendste feministische Theoretikerin dieses Jahrhunderts, die der Neuen Frauenbewegung mit dem schon 1949 veröffentlichten "Anderen Geschlecht" das Fundament gab, auf dem sie weiterbauen konnten.

Doch stand Beauvoir trotz aller Bedeutung immer ein wenig im Schatten Sartres, auch schon zu Lebzeiten. Sartre galt als "le maitre", sie als seine Elevin. So scheint es nur konsequent, daß im Brockhaus bei der Definition der Existentialphilosophieüber drei Spalten ihr Name noch nicht einmal erwähnt wird, ihre Person wird in einer Spalte abgehandelt, während Sartre über dreieinhalb Spalten geht. Dasselbe im Munzinger-Pressearchiv: dreieinhalb Blatt über Sartre, ein Blatt und ein paar Zeilenüber Beauvoir. Das ist die Relation: Sie scheint noch nicht einmal die Hälfte, sondern nur ein Drittel von ihm zu wiegen.

Nach dem Tod der beiden in den 80er Jahren begann Beauvoirs endgültige Demontage. Sicher, auch er wurde vom Piedestal heruntergeholt, sie aber wurde regelrecht zerschlagen. Nicht nur ihr Werk sei fragwürdig, auch ihr Leben sei alles andere als fortschrittlich, ja sogar spießbürgerlich gewesen. Gedemütigt habe sie ein Leben lang Sartres Harem ertragen, die ganze Libertinage sei eh nur auf seinem Mist gewachsen. Ganz zu schweigen von der Tristesse der von ihr so schroff abgelehnten, weil verpaßten Mutterschaft...

Es ist nicht schwer, die Häme der DenkmalstürmerInnen faktisch zu widerlegen, die zuvor selbst kräftig an ihrer Heroine und ihrem Heroen gebastelt hatten (und sie genau deswegen nun umso aggressiver wieder herunterholen müssen). Eines aber blieb und ließ sich nicht ganz wegreden: War er nicht vielleicht doch der Kreativere von beiden gewesen, war er nicht der große Denker und sie die begabt Ausführende? War es nicht auch seine Idee gewesen, daß Beauvoir über sich selbst, über die Frauen schrieb? Und war es nicht auch er gewesen, der das Modell einer "freien Beziehung unter Gleichen" vorgegeben hatte - und war sie ihm nicht tapfer aber stolpernd durch den Dschungel der freien Liebe gefolgt?

Nein, es war nicht so. Es war sogar eher umgekehrt. In England erschien ein Buch, das alle Spekulationen dieser Art auf den Kopf stellt. Aufgeschreckt durch Simone de Beauvoirs erst jüngst auf französisch und englisch veröffentlichte Briefe an Sartre - die sie selbst lebenslang als verschollen deklariert hatte, die sich jedoch nach ihrem Tod ganz einfach in einem ihrer Schränke wiederfanden - forstete das englische Philosophenehepaar Kate und Edward Fullbrook noch einmal Beauvoirs und Sartres gesamtes Werk sowie ihre Tagebücher und Briefe durch. Und siehe da, sie stießen auf sensationelle Spuren und Beweise, nach denen Beauvoir der führende Kopf war und Sartre ihr Schüler. Die Fullbrooks nennen den geliebten compagne de vie sogar einen"Plagiator"!

Nach den peniblen Recherchen der Fullbrooks stellt es sich heute so dar, daß bei diesem intellektuellen Traumpaar der Nachkriegszeit die Frau die Kühnere war, im Denken wie im Handeln. Nicht Sartre, sondern Beauvoir ist die Schöpferin des ersten existentialistischen Konzepts der beiden. Nicht Sartre, sondern Beauvoir ergriff die Initiative für eine unkonventionellere, freiere Beziehung, machte den ersten Schritt in die "freie Liebe". Sie war es auch, die bereits vor ihm eine sexuelle Beziehung hatte und die als erste den "Pakt" der beiden auf eine lebenslange "Hauptbeziehung mit Nebenbeziehungen" brach. Beauvoir schrieb dem Soldaten Sartre in der Etappe schon im Februar 1940 über ihren aktuellen Liebhaber in Paris: "Einer Sache bin ich mir jetzt sicher, nämlich, daß Bost in einer absolut gewissen, ja lebensnotwendigen Weise zu meiner Zukunft gehört. Ich möchte ein Nach-dem-Krieg mit ihm, zum Teil für ihn."

Kate und Edward Fullbrook aber enthüllen noch etwas Ungeheuerlicheres: Nämlich daß die Interpretation der Rollenverteilung zwischen dem Paar nicht nur an den Vorurteilen einer männerbeherrschten Welt lag und an der Bereitschaft Sartres, von der Täuschung zu profitieren (und vermutlich zuguterletzt auch selbst daran zu glauben), sondern daß auch Simone de Beauvoir dabei mitmachte. Sie selbst war es, die, wie die Fullbrooks beweisen, Sartre ihre Ideen zuschob und ihn ermutigte, sie als die seinen auszugeben. Sie war es, die eigene sexuelle Initiativen so taktvoll verschleierte, daß sie von der Außenwelt kaum wahrgenommen wurden (vom frühen Liebhaber Bost über ihre große Leidenschaft Nelson Algren bis hin zu ihrer letzten Lebensgefährtin Sylvie le Bon). Sie war es, die - bei allem Selbstbewußtsein - ihr Licht in Relation zu Sartre unter den Scheffel stellte und half, die Scheinwerfer auf ihn zu richten.
Und Sartre? Er war es gewohnt, daß Frauen in ihn investierten, ohne dafür angemessen von ihm gewürdigt zu werden. So beschreibt er zum Beispiel in seiner Autobiographie "Die Wörter'' seinen Großvater Charles Schweitzer (der Bruder von Albert Schweitzer) als die bedeutendste und prägendste Person seiner Kindheit, über die Großmutter aber äußert er sich nur en passant und herablassend. Zehn Jahre vor seinem Tod jedoch sagte er in einem Interview über seine Großmutter: "Mit 77 Jahren war sie geistig rege wie eh und je. Sie bewog mich, Dostojewski, Tolstoi, Stendhal zu lesen, so daß wir darüber diskutieren konnten. Wir diskutierten sogar über die russische Revolution."

Daß ein Mann in einer männerdominierten Kultur die materielle, emotionale und geistige Zuarbeit von Frauen für selbstverständlich hält und kaum als solche wahrnimmt, das ist nicht neu. Dem konnte oder wollte sich auch ein so offener und unkonventioneller Mann wie Sartre offensichtlich nicht entziehen. Aber daß selbst eine Frau wie Simone de Beauvoir - die wie kaum eine andere das seelische, geistige und ökonomische Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Geschlechtern analysiert und zuende gedacht hat - dennoch selbst weitgehend in diesen Mustern gefangen bleibt, das ist überraschend.

"Warum ließ Beauvoir den geistigen Diebstahl durch Sartre zu?", fragen die Fullbrooks und erforschen, selbst geübte Existentialisten, zunächst einmal die Wirklichkeit. Sie stoßen auf folgenden Vorfall: 1937 reichte Beauvoir ihre ersten Erzählungen beim Gallimard-Verlag ein, der bereits Sartres "Ekel" veröffentlicht hatte - sie wurden mit der Begründung abgelehnt, solche Texte verletzten die gesellschaftlichen Spielregeln in bezug auf das, was Frauen denken und was Frauen über Frauen schreiben dürften. Es wird nicht Beauvoirs erste und auch nicht ihre letzte Erfahrung dieser Art gewesen sein. Selbst einer Ausnahmefrau wie ihr waren (und sind) Grenzen gesetzt. Die symbiotische Beziehung zwischen Beauvoir und Sartre war von beiden gewollt, wurde aber lebenslang stärker von ihr betont. War dies in Wahrheit eine Art Trick von Beauvoir, sich sozusagen ihre männliche Hälfte wiederzuholen? Bewußt, halbbewußt oder unbewußt? War Sartre also nicht nur ihr Partner (wie sie für sich vielleicht keinen passenderen hätte finden können), sondern auch sozusagen ihre andere Hälfte? Eine Art Medium, über das sie, die Frau, "männlich" denken und handeln konnte? Der Andere, durch den sie zu der Einen werden konnte?

In ihrem stark autobiographisch geprägten ersten Roman "Sie kam und blieb" nennt Beauvoir das Alter ego Sartres Pierre. Auf Seite 44 schreibt sie über sich (im Roman Francoise) und Pierre: "Sie kannte Pierres Tonfall bei jedem Satz und jede seiner Gebärden. Sie sah sie derart sicher voraus, daß es ihr schien, als entsprangen sie ihrem eigenen Wollen. (...) Es ist wirklich so, daß wir nur eines sind, dachte sie in einer Aufwallung von Liebe. Es war Pierre, der sprach, seine Hand, die sich hob, doch seine Gesten und Betonungen waren ein Teil ihres Lebens so gut wie des seinigen; oder vielmehr nur ein Leben, dessen Träger ein Wesen war, von dem man nicht 'ich' und nicht 'du', sondern nur 'wir' sagen konnte. (...) Keiner von beiden brachte (davon) jemals das kleinste Teil für sich auf Seite; das wäre der schlimmste Verrat gewesen, der einzige, der zwischen ihnen überhaupt auszudenken war."

Sollte es dennoch jemals passiert sein, daß eine Hälfte dieses "Ganzen" ihr Denken, Fühlen oder Erfahren "für sich" behalten hätte, so war es wohl eher Sartre, der diesen Verrat begangen hat. Beauvoir hat, das weiß ich aus eigener Erfahrung mit beiden, bis zuletzt einfach alles mit ihm geteilt: selbst die Menschen, die sie liebte. Auch das nehmen ihr heute manche übel: daß Beauvoir selbst ihre Geliebten Sartre zugespielt hat. Auch diejenigen ihrer Liebhaberinnen, die wie Olga Kosakievicz (in "Sie kam und blieb" die Xaviere) oder Bianca Lamblin, geborene Bienenfeld (in den Memoiren "Louise Vendrine") - eigentlich von Sartre nichts wissen wollten, hatten das Leben mit beiden zu teilen, wollten sie die eine nicht verlieren. Das einzige, was sie ihm offensichtlich manchmal vorenthielt bzw. wovor sie ihn schützte, waren Leid oder Demütigung. Für Beauvoir und Sartre war ihre Beziehung nach eigenen Aussagen eine sogenannte "notwendige Liebe". Denn weder er noch sie hätten in ihrem Werk und ihrem Leben so weit gehen können ohne den anderen. Doch sie hat offensichtlich mehr als nur geteilt: Sie hat manches ganz geschenkt - und er hat es ganz genommen, ja, als das seine erklärt.

Die Fullbrooks analysieren "Sie kam und blieb" nicht nur als Roman, sondern auch als philosophisches Konstrukt - und in der Tat, einmal die Augen geöffnet, liegt der Roman glasklar gleichzeitig als Herzstück des Existentialismus da. Denn Beauvoir entwickelt darin nicht nur die Idee vom "sozialen Anderen" und eine neue Notion der "Zeit", sie erfaßt auch erstmals die sogenannte "Unwahrhaftigkeit" (la mauvaise foi), die Nicht-Authentizität, die Spaltung des Bewußtseins in Subjekt und Objekt. Diese Erkenntnis wurde lange nicht in ihrer vollen Bedeutung benannt und erst jetzt, in den 80ern und 90ern, vom Feminismus weiterentwickelt: die Persönlichkeitsspaltung bis hin zur jüngsten Erkenntnis des Phänomens der "multiplen Persönlichkeiten".
Die Fullbrooks weisen nach, daß Beauvoir ihre existentialistischen Erkenntnisse erzählerisch am Beispiel des konkreten Lebens vorträgt, zum Beispiel eingebunden in die Handlung eines Romans. Sartre wiederholt dasselbe dann wenig später in abstrakter und darum schwerer verständlichen Weise. Es stellt sich die Frage, ob Beauvoirs dem Leben verpflichtete Art zu philosophieren - das nur in einem Denken, das sich jederzeit der Wirklichkeit stellt, einen Sinn sieht - nicht auch typisch ist für eine heutige "weibliche" Art zu denken (was, versteht sich, keineswegs biologisch gemeint, sondern kulturell und sozial bedingt ist). Denn die in der Männerwelt mit dem Leben soviel stärker befaßten und im Leben verhafteten Frauen haben meist weder Zeit noch Interesse, sich von der konkreten Wirklichkeit in die Abstraktion zu entfernen und fassen und überprüfen ihre Ideen dank eben dieser Wirklichkeit.

Wenn es so ist, so ist die Richtigstellung der Schöpfungsanteile beim Werk von Beauvoir und Sartre nicht nur ein Akt der Wiedergutmachung für Simone de Beauvoir, sondern auch ein Stück weiblicher Geschichtsschreibung.
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