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Unsere Schwestern von gestern: Flora Tristan 1803 - 1844

Verfasst von: Alemann, Claudia von
in: EMMA
1977 , Heft: 5 , 40-41 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1977-5-a
Formatangabe: Porträt
Link: Volltext
Verfasst von: Alemann, Claudia von
In: EMMA
Jahr: 1977
Heft: 5
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Meine Großmutter war eine komische Frau. Sie erfand einen Haufen sozialistischer Geschichten, unter anderem die Arbeitervereinigung. Die dankbaren Arbeiter errichteten ihr ein Denkmal auf dem Friedhof von Bordeaux. Wahrscheinlich konnte sie nicht kochen. Ein sozialistischer und anarchistischer Blaustrumpf. (Paul Gauguin, Maler, geboren 1848)

"Selbst der unterdrückteste Mann kann ein anderes Wesen unterdrücken: seine Frau. Sie ist die Proletarierin des Proletariers."
(Flora Tristan, Feministin und Sozialistin, geboren 1803, gestorben 1844)

Wer war eigentlich diese Frau, die mitten in den Auseinandersetzungen und Zersplitterungen der Sekten und ständischen Organisationen der Arbeiter die Vereinigung der Arbeiterklasse propagierte? Die durch Frankreich reiste, das Volk versammelte und Gruppen gründete? Die von der Polizei verfolgt wurde und sich den Haß der Oberen zuzog, weil sie die Arbeiter agitierte? Und den Haß der männlichen Arbeiter, weil sie für die Rechte der Frauen sprach?

"Die Frau ist Paria von Geburt an, Leibeigene von ihrer gesellschaftlichen Stellung her, und zum Unglück gezwungen." Flora Tristan, 1803 geboren als uneheliche Tochter einer Französin (Therese Laisney) und eines peruanischen Adeligen (Don Mariano de Tristan de Moscoso), wußte, wovon sie sprach, als sie das schrieb.

Das ist - in Schlaglichtern - ihr Leben: Ihre Eltern lernen sich während des spanischen Bürgerkrieges kennen und lassen sich von einem Priester ohne gültige Heiratspapiere trauen. Die Ehe ist nach französischem Recht ungültig. Flora wächst in einem Landhaus in der Nähe von Paris auf. Als sie fünf Jahre alt ist, stirbt der Vater, das Haus wird als spanisches Eigentum konfisziert, Mutter und Tochter bleibt nichts. Mit fünfzehn Jahren kommt Flora mit ihrer Mutter nach Paris, sie leben in einer armseligen Mansarde. Die Mutter bringt dem Mädchen selbst Lesen und Schreiben bei.

Für Flora Tristans Biografie und späteres Handeln spielt der Widerspruch zwischen dem, was die Mutter an Erdichtetem, Wirklichkeit und Wunschtraum erzählt und dem, was täglich an Armut und Elend erfahren wird, eine wichtige Rolle. Ebenso wie das Bewußtsein, eine Außenseiterin zu sein durch die uneheliche Geburt und ihr Pendeln zwischen Klassen. Sie hat die Kraft und nimmt sich die Freiheit einer "unweiblichen" Intelligenz. Sie weigert sich, in Ehe und Mutterschaft ihre Erfüllung zu sehen. Und sie ist auch politisch eine Außenseiterin: Sie setzt sich Seite an Seite mit ihren Kampfgefährten für das Proletariat ein und kämpft gleichzeitig gegen die Männer an ihrer Seite für die Frauen. Die Armut zwingt Flora früh zur Arbeit. Sie koloriert Etiketten in der Graveurwerkstatt von André Chazal 1821. Kaum 18 Jahre alt heiratet sie ihn - auf Drängen ihrer Mutter. Sie bekommt in kurzer Zeit zwei Kinder und verläßt ihren Ehemann, zum drittenmal schwanger. Als er ihr auch noch nahelegt, sich zur Begleichung seiner Spielschulden zu prostituieren, zieht Flora wieder zu ihrer Mutter. 1825 bekommt sie die Tochter Aline, für die sie später schreibt: "Ich schwöre dir, für dich zu kämpfen, dir eine bessere Welt zu bereiten. Du wirst weder Sklavin sein noch Paria."

Auf Arbeitssuche geht Flora als Gesellschafterin nach England und kehrt 1829 nach Paris zurück. Ihr erstes Kind ist an der Cholera gestorben und ihr Ehemann hat sämtliche Rechte über sie und die beiden anderen Kinder. Er lauert ihr auf, verfolgt sie, droht ihr mit Ermordung, macht ihr einen wahren Psychokrieg. Sie überläßt ihm den Sohn Ernest, will aber um keinen Preis die Tochter Aline hergeben.

In den frühen dreißiger Jahren wird Flora von den politischen Ereignissen beeinflußt: In Lyon streiken die Weber, in Paris sind Aufstände und entstehen Geheimbünde unter der Anleitung von Auguste Blanqui. Die Herrschenden reagieren rasch: Versammlungsverbot für mehr als fünfzehn Personen, Pressezensur, Massenverhaftungen. Was für Zeiten! Kinder müssen schon mit vier Jahren arbeiten, Prostitution ist für viele Frauen die einzige Möglichkeit, zu überleben. Flora geht zu den Versammlungen der Saint-Simonisten, der einflußreichsten frühsozialistischen Gruppe. Sie erklären die Befreiung der Frau zu ihrem höchsten Ziel, lassen Frauen zu ihren Versammlungen zu, und geben ihnen den zweithöchsten Platz in der Hierarchie der Gruppe — was den Saint-Simonistinnen bald nicht mehr genügt. Sie lehnen sich gegen die Bevormundung der Männer auf und gründen eine eigene Zeitung, "La femme libre", die freie Frau!

Im Vorwort der Zeitung wird betont, daß sie nur von Frauen herausgegeben und geschrieben wird, ohne jegliche Unterstützung. 1833 beschließt Flora, nach Peru zu ihren reichen Verwandten zu reisen, um wenigstens einen kleinen Teil der Erbschaft zu erhalten. In Peru erfährt sie, was Sklavenhandel und koloniale Unterdrückung und Ausbeutung bedeuten.

1834 kehrt Flora nach Paris zurück, zu Aline. Ein Onkel zahlt ihr nur eine kleine Pension und nicht den Teil der Erbschaft, der ihr zustünde, wäre sie ehelich geboren. Chazal jedoch glaubt an eine Erbschaft und entführt Aline. Das Kind, das den Vater nie gesehen hat, flüchtet zur Mutter zurück. Es folgen Jahre des Versteckspiels. Chazal entführt Aline noch mehrmals. Und versucht sogar, sie sexuell zu mißbrauchen!

Flora Tristan geht vor Gericht. 1837 findet der Prozeß gegen Chazal statt, bei dem er freigesprochen wird, obwohl sein eigener Sohn Ernest gegen ihn aussagt! Nach zwölfjährigem Kampf wird jedoch endlich die Trennung dieser Ehe ausgesprochen und Aline der Mutter zugesprochen. In der Zwischenzeit hat Flora zu schreiben begonnen, 1835 erscheint die Broschüre "Über die Notwendigkeit, fremden Frauen einen guten Empfang zu bereiten". Unter dem Namen ,Madame F. T.' schlägt sie darin vor, gemeinnützige Gesellschaften zu bilden, die in jeder Stadt Häuser bereitstellen, in denen Mädchen und Frauen, die vom Land kommen, die Arbeit suchen, von ihrem Ehemann flüchten oder der Prostitution entkommen wollen, aufgenommen werden.

Mit dieser Broschüre macht Flora die Bekanntschaft von Charles Fourier, der 1808 schreibt: "Die Erweiterung der Privilegien der Frauen ist die allgemeine Grundlage allen sozialen Fortschritts." Flora Tristan nimmt die Ideen der Frühsozialisten, der Sozialreformer und der utopischen Denker ihrer Zeit auf. Sie schreibt jedoch später, daß sie niemals irgendeiner Schule, Sekte oder Gruppe angehört, sondern deren Ideen mit ihren eigenen verbunden und erweitert habe. Ihr Buch "Wanderungen einer Paria" erscheint 1838. Sie beschreibt darin ihre eigene Vergangenheit, ihre Reise nach Peru, die Machtkämpfe in der Politik, Kolonialismus und Sklaverei und die Stellung der Frauen mit einer Schärfe und Ironie, die man, wie eine Zeitung schreibt,"einer Frau nicht zugetraut habe" - und die ihren Onkel veranlassen, ihr Buch öffentlich auf dem Marktplatz von Lima zu verbrennen und ihr die Pension zu streichen. Am 10. September 1838 wartet Chazal vor ihrer Haustür auf Flora und schießt auf sie. Sie überlebt, eine Kugel bleibt jedoch unter ihrer Brust stecken und kann nicht entfernt werden. Der Schwurgerichtsprozeß gegen André Chazal ist oft eher ein Prozeß gegen Flora Tristan und ihren "Lebenswandel" als ein Prozeß gegen den Täter. Chazal wird zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die später in 20 Jahre Gefängnis umgewandelt werden. Nach einer Reise nach London erscheint 1840 ihr Buch "Spaziergänge in London" (Promenades dans Londres) in mehreren Auflagen. Flora wird zu einer der führenden Persönlichkeiten sozialistischer Kreise. Fünf Jahre später publiziert Friedrich Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" und übernimmt ganze Passagen aus Floras Buch fast wörtlich - allerdings ohne zu sagen, daß die Passagen von ihr sind! Flora war immer eine Frau des Wortes und der Tat. Sie entwickelt das Programm der "Union Ouvriere", der Arbeitervereinigung. Zu einem Zeitpunkt, zu dem rivalisierende Gruppen von Handwerkern und Arbeitern sich gegenseitig bekämpfen, wo der Arbeitgeber die alleinige Gewalt über seine Arbeiter hat, über Entlassungen, Einstellungen, Festlegung der Löhne; wo keinerlei Lohn im Fall von Mutterschaft, Arbeitsunfällen, Invalidität gezahlt wird; wo es keinerlei rechtliche Möglichkeiten für die Arbeiter, Vereinigungen zu bilden, sich zu organisieren, gibt.

Flora Tristan fordert in ihrem Programm die zwei Millionen Arbeiterinnen und fünf Millionen Arbeiter auf, pro Jahr zwei Francs zu geben (was dem Tageslohn eines männlichen Arbeiters entsprach, Frauen verdienten einen Franc oder weniger), um damit die sogenannten "Arbeitspaläste" - Stätten der Erholung, Fortbildung und Organisation — zu finanzieren. Und sie fordert gleiche Erziehung für Jungen und Mädchen und Gleichberechtigung von Männern und Frauen:

"Ich fordere die Rechte der Frauen, weil ich davon überzeugt bin, daß alles Unglück der Welt von diesem Vergessen und der Mißachtung der natürlichen und unverzichtbaren Rechte des weiblichen Wesens herrühren."

Kein sozialistischer Verleger ist bereit, Flora Tristans Programm zu drucken, also beschließt sie, sie selbst drucken zu lassen. Es erscheinen insgesamt vier Auflagen, mit Unterstützung von Arbeitern verlegt. Flora wird von vielen Menschen aufgefordert, ihre Ideen selbst vorzutragen, zu verbreiten. Gruppen bilden sich. Sie erhält jeden Tag hunderte von Briefen. Wie ein Lauffeuer greifen ihre Ideen um sich.

Am 12. April 1844 macht sie sich mit dem Dampfschiff auf die Reise. Sie besucht Städte und Dörfer, wird von der Polizei bespitzelt und verfolgt, von den Autoritäten angegriffen, vom Volk gefeiert! In vielen Städten bilden sich Gruppen, Komitees, Vorformen von Organisationen. Am 14. November 1844 stirbt Flora Tristan in Bordeaux an typhoidem Fieber, an Erschöpfung, an der Kugel, die noch immer in ihrer Brust steckt. Tausende von Frauen und Arbeiter folgen ihrem Sarg. Auf ihrer letzten Reise wurde sie von einer jungen Frau, von Eleonore, begleitet. Über die schreibt Flora in ihren nach ihrem Tod veröffentlichten Tagebüchern:
( "Wenn ich nicht mehr kann, wird Eleonore mit Sicherheit weitermachen. Ich habe mir überlegt, was sie wohl für mich empfindet, und was ich für sie empfinde. Ich glaube, es ist die Ankündigung einer neuen Liebe, größer und subtiler als jede bisher gekannte Liebe unter den Menschen. Eine Liebe, die kein Geschlecht kennt, weder allein den Männern, noch allein den Frauen gehört..."
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