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Orlando

Verfasst von: Woolf, Virginia info
in: EMMA
1977 , Heft: 1/2 , 52 S.
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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1977-1-a
Formatangabe: Buchauszug
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Verfasst von: Woolf, Virginia info
In: EMMA
Jahr: 1977
Heft: 1/2
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Sie erinnerte sich, wie sie als junger Mann beharrlich gefordert hatte, Damen sollten folgsam, keusch, parfümiert und exquisit herausgeputzt sein. »Nun werde ich in eigener Person für diese Forderungen büßen müssen«, überlegte sie; »denn Weiber sind, nach meiner eigenen kurzen Erfahrung in diesem Geschlecht, von Natur weder folgsam, keusch, parfümiert noch exquisit herausgeputzt. Sie können diese Reize, ohne welche sie sich keines der Genüsse des Lebens erfreuen dürfen, nur durch die ödeste Selbstzucht erwerben.
»Da ist einmal das Frisieren«, dachte sie, »das allein eine Stunde meines Vormittags beanspruchen wird. Dann das Sichbesehen im Spiegel; noch eine Stunde. Das Miederschnüren; das Waschen und Pudern; das Umkleiden aus Atlas in Spitzen aus Spitzen in Paduaseide; das Keuschsein jahraus, jahrein...«

Hier schnellte sie ungeduldig mit dem Fuß und ließ dabei ein paar Zoll ihrer Wade sehen. Ein Matrose auf dem Mast, der in eben diesem Augenblick hinuntersah, fuhr so heftig zusammen, daß er den Tritt verfehlte und sich nur mit knapper Not noch retten konnte. »Wenn der Anblick meiner Knöchel den Tod für einen ehrlichen Kerl bedeutet, der zweifellos Frau und Kind zu ernähren hat, dann muß ich sie schon aus reiner Menschlichkeit bedeckt halten«, dachte Orlando (...)
Und sie verfiel in Nachdenken darüber, wohin es mit uns gekommen sei, wenn ein weibliches Wesen alle Schönheiten verdeckt halten müsse, damit nicht am Ende ein Matrose aus dem Mastkorb falle. »Die Pest auf sie!« sagte sie und begriff zum erstenmal, was sie unter anderen Umständen als Kind gelehrt worden wäre: die geheiligten Verantwortlichkeiten des Weibseins.
»Und das ist der letzte Fluch, den ich wohl werde ausstoßen dürfen«, dachte sie, »sobald ich einmal den Fuß auf englischen Boden gesetzt habe. Und mir wird nie wieder erlaubt sein, einem Mann eins über den Kopf zu geben oder ihm ins Gesicht zu sagen, er lüge, oder meinen Degen zu ziehen und ihn ihm durch den Leib zu rennen oder im Haus der Lords zu sitzen oder eine Herzogskrone zu tragen oder in feierlichen Aufzügen zu schreiten oder einen Mann zum Tode zu verurteilen oder ein Heer anzuführen oder mein Pferd durch Whitehall tänzeln zu lassen oder zweiundsiebzig verschiedene Medaillen an der Brust zu tragen.

Ich werde, sobald ich einmal englischen Boden betreten habe, nichts anderes mehr tun können, als den Tee einzuschenken und meine Herren und Gebieter zu fragen, wie sie ihn gern trinken. Nehmen Sie Zucker? Nehmen Sie Sahne?« Und die Worte hervorlispelnd, war sie entsetzt zu gewahren, was für eine niedere Meinung sie sich über das andere Geschlecht bildete, das männliche, welchem anzugehören früher ihr Stolz gewesen war.
»Aus einem Mastkorb zu fallen«, dachte sie, »weil man die Fußknöchel einer Frau erblickt! Sich auszustaffieren wie einen Guy Fawkes und auf den Straßen zu paradieren, damit die Weiber einen bewundern; eine Frau nichts lernen zu lassen, damit sie einen nicht auslacht; der Sklave des schmächtigsten Dings in Unterröcken zu sein und doch einherzustolzieren, als wären sie die Herren der Schöpfung - Himmel!« dachte sie, »was für Narren sie aus uns machen - was für Narren wir sind!«

Und hier könnte es durch eine gewisse Zweideutigkeit ihrer Worte den Anschein haben, sie tadelte beide Geschlechter gleichermaßen, als gehörte sie keinem von ihnen an; und tatsächlich schien sie vorläufig zu schwanken; sie war ein Mann; sie war ein Weib; sie wußte die Geheimnisse, kannte die Schwächen beider. Es war höchst verwirrend und machte einen ganz wirbelig, sich in einem solchen Gemütszustand zu befinden. Die Annehmlichkeiten des Nichtwissens schienen ihr völlig versagt zu sein. Sie war eine vom Sturmwind dahingetriebene Flaumfeder (...)

Als sie erwachte, segelte das Schiff vor einer guten Brise so nahe der Küste dahin, daß Ortschaften auf dem Klippenrand vor dem Herabgleiten ins Wasser nur durch die Dazwischenkunft eines großen Felsens oder der knorrigen Wurzeln eines uraltenÖlbaums bewahrt zu sein schienen. Der von tausenden, schwer mit Früchten behangenen Bäumen herwehende Duft der Orangen erreichte sie auf dem Deck (...)

Die Arme emporstreckend (Arme, das hatte sie schon gelernt, haben keine so fatalen Wirkungen wie Beine) dankte sie dem Himmel, daß sie nicht auf einem Kriegsroß durch Whitehall sprengen noch auch einen Mann zum Tode verurteilen mußte. »Es ist besser«, dachte sie, »mit Armut and Unwissenheit, diesen dunkeln Gewändern des weiblichen Geschlechts, bekleidet zu sein; besser, die Herrschaft und Zucht der Welt anderen zu überlassen; besser, kriegerischen Ehrgeiz, die Liebe zur Macht und alleübrigen männlichen Begierden los zu sein, wenn eins auf diese Weise die höchsten, der Menschenseele bekannten Wonnen voller genießen kann, nämlich«, sagte sie laut, wie es ihre Gewohnheit, wenn sie tief bewegt war, »stille Betrachtung, Einsamkeit und Liebe.« »Gott sei Dank, daß ich ein Weib bin!« rief sie aus und wollte sich schon in diese äußerste Torheit - die weder bei Mann noch Weib von einer betrüblicheren übertroffen wird - stürzen, stolz auf ihr Geschlecht zu sein, als sie über dem einzigartigen Wort innehielt, welches sich, was immer wir tun mochten, um es an seinen Platz zu verweisen, am Schluß ihres letzten Satzes eingeschlichen hat. »Liebe«, sagte Orlando. Sogleich - so groß ist ihr Ungestüm - nahm Liebe menschliche Gestalt an - so groß ist ihr Stolz.

Denn während andere Begriffe es zufrieden sind, abstrakt zu bleiben, will diesen einen nichts anderes befriedigen, als Fleisch und Blut zu werden; Mantilla und Weiberröcke oder Strumpfhosen und Männerwams anzulegen.

Und da alle Geliebten Orlandos weiblich gewesen waren, war nun, durch die schuldhafte Trägheit der Menschennatur, sich Herkömmlichkeiten anzupassen, noch immer, obgleich sie selbst jetzt ein Weib war, wen sie liebte, ein Weib; und wenn das Bewußtsein, vom selben Geschlecht zu sein, überhaupt irgendeine Wirkung hatte, war es die, die Gefühle, die sie als Mann empfunden hatte, zu beleben und zu vertiefen. Denn nun wurden ihr tausend Andeutungen und Geheimnisse klar, welche ihr unverständlich gewesen waren.

Nun war die Undurchsichtigkeit, welche die Geschlechter trennt und in ihrem Dunkel unzählige Unlauterkeiten verweilen läßt, beseitigt, und wenn irgend etwas daran ist, was der Dichter über Wahrheit und Schönheit sagt, gewann diese Zuneigung soviel an Schönheit, wie sie an Trügerischem verlor. (...)
Und vom Eifer dieser Entdeckung und der Jagd nach allen den Schätzen, die sich nun enthüllten, war sie so entrückt und wie verzaubert, daß sie meinte, eine Kanonenkugel berste an ihrem Ohr, als nun plötzlich eine Männerstimme sagte: »Gestatten Sie mir, Ma'am«, eine Männerhand sie auf die Füße zog und die Finger eines Mannes, auf deren mittlerem ein Dreimaster tätowiert war, zum Himmelsrand wiesen.

»Die Uferklippen Englands, Ma'am«, sagte der Kapitän, und er hob die Hand, die auf den Himmelsrand gewiesen hatte, zum Salut.
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