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Dossier : Gesundheit ; der lange Marsch der Frauen durch die Institutionen

Verfasst von: Louis, Chantal
in: EMMA
2003 , Heft: 5 , 64-70 S.

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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:2003-5-a
Formatangabe: Dossier; Bericht
Link: Volltext
Verfasst von: Louis, Chantal
In: EMMA
Jahr: 2003
Heft: 5
Beschreibung: Ill.
ISSN: 0721-9741
List of content:
  • WHO (Weltgesundheitsorganisation)
  • Sprache: Nicht einzuordnen
    Beschreibung:
    Der lange Marsch der Frauen durch die Institutionen

    Die Patientin "Frauenkrankheit" wird endlich behandelt! Was in den 70er Jahren in die Frauenzentren begann, wird heute in den Ärztinnenpraxen und der Gesundheitspolitik umgesetzt.

    Es ist schon beeindruckend. Neben den Gesandten der Ärzteschaft sitzen an diesem Montagmorgen im Ple-nar-Saal des Düsseldorfer Landtags Vertreterinnen der nordrhein-westfälischen Hebammen, der Frauennotrufe und der Frauenberatungsstellen auf dem Podium. Im Publikum: die Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser und die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe, das Mädchenhaus Bielefeld und das Diakonische Werk, das Netzwerk Frauen und Mädchen mit Behinderungen und dieAOK Alle gemeinsam diskutieren im ehrwürdigen Düsseldorfer Landtag am Rhein über ein Thema, das die Frauenbewegung und die aus ihr hervorgegangenen Feministischen Frauengesundheitszentren bereits vor einem Vierteljahrhundert aufgebracht hatten -damals aber dafür mit Spott und Häme überschüttet worden waren: die Existenz der alltäglichen Gewalt gegen Frauen und die Auswirkungen auf deren Gesundheit. "Noch vor ein paar Jahren", weiß Angelika Zollmann vom Bundesverband der Frauengesundheitszentren, "wäre so eine Vernetzung undenkbar gewesen!"

    Beides - das Thema und die Connection aus frauenbewegten Organisationen und traditionellen Schulmedizinern - führen zu der Diagnose: Die Patientin "Frauenkrankheit" wird endlich behandelt — ist also auf dem Wege der Besserung.

    Diese optimistische Diagnose darf frau spätestens seit Frühjahr 2001 stellen. Da veröffentlichte die rot-grüne Bundesregierung den ersten "Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen", kurz: Frauengesundheitsbericht. Der Befund des Berichts für die Patientin "Frauengesundheit" lautete: chronische Vernachlässigung.

    Symptom Nr. 1: Datenmangel. Über viele Krankheiten, von denen vorwiegend oder ausschließlich Frauen betroffen sind, wird zu wenig geforscht und berichtet. So liegen zum Beispiel über gynäkologische Erkrankungen bisher "kaum Untersuchungen" vor. (Kein Wunder - erst 1999 wurde der erste Lehrstuhl für Gynäkologie mit einer Frau besetzt ...) Im "Gesundheitsbericht für Deutschland" aus dem Jahr 1998 wurden die "Frauenkrankheiten" noch nicht einmal als eigenständiges Thema behandelt, und das, obwohl zwei von drei Frauen mindestens einmal im Leben eine schwerere Erkrankung der Geschlechtsorgane hat. Fazit des Frauenge-sundheitsberichts: Gynäkologische Erkrankungen sind ein "von der Gesundheitsberichterstattung völlig vernachlässigtes Thema".

    Das gilt auch für Ess-Störungen (Frauenquote: 95 Prozent), deren "dramatische Zunahme" eher durch die Hilferufe aus Mädchenberatungsstellen und Borderline-Stationen bekannt ist als durch qualifizierte Studien im Auftrag des Gesundheitsministeriums. Das Hauptgesundheitsrisiko für Frauen — die Gewalt mit all ihren direkten und psychoso-matischen Folgen — ist vom Gesundheitssystem bezeichnenderweise am wenigsten erforscht: Trotz der "epidemischen Ausmaße" von häuslicher und/oder sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen, existierte bisher weder eine umfassende Studie über das Ausmaß von Gewalt und deren Behandlung noch ist in Deutschland jemals eine "medizinische Forschungsarbeit über die Verletzungen und organischen Schäden gemacht worden, die in Folge von Frauenmisshand-lung auftreten".

    Fazit: "Von der Verankerung des Themas ,Gewalt gegen Frauen' in Forschung und Lehre an den medizinischen Fakultäten ist die Bundesrepublik allem Anschein noch weit entfernt."

    Symptom Nr. 2: Blindheit auf dem Frauen-Auge. Weil zum Beispiel der Herzinfarkt als "Männerkrankheit" gilt, fehlt vielen Ärzten das Wissen darüber, dass Frauen bei Infarkten häufig andere Symptome zeigen als Männer. Folge: Ein Herzinfarkt wird bei weiblichen Patienten oft nicht erkannt. Auch in Sachen Medikamente gilt die gute alte Gleichung "Mensch = Mann": Weit weniger als die Hälfte aller Medikamente werden auch an Frauen getestet. Trotzdem spricht der Beipackzettel schlicht von"Erwachsenen" und tut dabei so, als ob beispielsweise zwischen einem 20-jährigen Mann und einer 70-jährigen Frau keinerlei körperliche, soziale und emotionale Unterschiede bestünden. Folge: Viele Medikamente werden bei Frauen unter- oder überdosiert und haben gar keine, eine veränderte oder schädliche Wirkung.

    Symptom Nr. 3: Unterversorgung der Patientinnen mit frauenspezifischen Angeboten. Zum Beispiel in der Psychiatrie. Doppelt so viele Frauen wie Männer leiden an Depressionen, Psychosen und Neurosen (während Männer eher dem Alkohol zusprechen und aggressiv werden, eine "antisoziale Persönlichkeit" entwickeln). Obwohl die größere "Krankheitsanfälligkeit" von Frauen erwiesenermaßen "eng verbunden ist mit Familienstand, Arbeit und gesellschaftlicher Rolle" - sprich: Hausfrauensyndrom, Doppel- und Dreifachbelastung oder Gewalterfahrungen - sind geschlechtergemischte Psychiatrie-Stationen die Regel.

    Zu der Frage, wie sich zum Beispiel die Unterbringung und Behandlung der Opfer zusammen mit Tätern auf ihren Genesungsprozess auswirken könnte, gibt es bisher nur eine einzige deutsche Studie. Ihre Kritik könnte nicht schärfer sein. "Frauen werden nicht systematisch vor gewaltbereiten Patienten geschützt", heißt es da. Abgesehen davon müsse bezweifelt werden, ob sich die Patientinnen "während ihres Aufenthalts überhaupt umfassend mitteilen könnten". Häufig würden die Erlebnisse der Frauen als"persönliches Schicksal gedeutet und kaum in Bezug gesetzt zu den Strukturproblemen und der sozialen Existenz von Frauen".

    Als der Frauengesundheitsbericht aus dem Hause der damaligen Frauenministerin Bergmann vor zwei Jahren erschien, brach — trotz vielfach deprimierender Ergebnisse — Optimismus aus. Der Report sei "ein Meilenstein", freute sich der Deutsche Arztinnenbund; "eindrucksvoll" sei der Bericht, befanden die t^n^z-Gewerkschafterinnen: "Hier lässt sich nachlesen, in welcher Weise das Gesundheitswesen von geschlechtsspezifischen Vorurteilen geprägt und einseitig auf Männer als Normpatienten ausgerichtet ist." "Endlich liegt eine Datenbasis vor", lobte die Bund-Länder-Kommission.

    Von "überraschenden Ergebnissen" sprach die Ärztezeitung, von "verheerenden" die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands, die den Frauengesundheitsbericht "außerordentlich begrüßte". Selbst der kritische Dachverband der Feministischen Frauengesundheitszentren war angetan.

    Zum allerersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hatte ein Ministerium eine Bestandsaufnahme zur Frauengesundheit gemacht, die nicht nur telefonbuchdick, sondern auch komplett von Bewusstsein durchdrungen war und quasi sämtliche Forderungen der Frauen(gesundheits)-bewegung aufgenommen hatte. Jetzt stand es da, Schwarz aufWeiß:

    "Frauen und Männer unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Krankheiten und gesundheitlichen Einschränkungen, ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen, die Gesundheit und Krankheit beeinflussen, ihres Umgangs mit gesundheitlichen Belastungen und der Inanspruchnahme von gesundheitlichen Versorgungsleistungen. Die Gesundheitsprobleme und Ressourcen von Frauen sind bisher nur unzureichend untersucht worden, und es fehlt ein Überblick über die gesundheitliche Situation von Frauen in Deutschland", schrieb die damalige SPD-Frauenministerin Christine Bergmann. Und: "Gewalterfahrungen, Doppelbelastung durch Familie und Beruf ohne ausreichende partnerschaftliche Unterstützung sowie soziale Ausgrenzung von Frauen spielen als gesundheitliche Faktoren eine wichtige Rolle. Wir brauchen ein Gesundheitswesen, das diesen Unterschieden Rechnung trägt." Bis eine deutsche Frauenministerin diese Sätze schrieb, hat es ein rundes Vierteljahrhundert gebraucht.

    Am Anfang stand die Selbsterfahrungsgruppe. Es war anno 1973, als die Amerikanerin Carol Dawner im West-Berliner Frauenzentrum ihren deutschen Schwestern zum ersten Mal die vaginale Selbstuntersuchung demonstrierte. Jeans runter, hopp auf den Tisch, Beine gespreizt — und das Plastikspekulum eingeführt. So, jetzt können alle gucken! Die Frauen näherten sich zögernd und staunten nicht schlecht: "Ach, so sehe ich da unten aus ..."

    Ein Jahr zuvor hatten die Amerikanerinnen die erste öffentliche Selbstuntersuchung in Los Angeles gemacht. Folge: Die Polizei drang mit einem Durchsuchungsbefehl in die Räume des Frauenzentrums und beschlagnahmte die Spekula sowie den - zur Selbstbehandlung von Pilzinfektionen sehr nützlichen - Joghurt. Die Strafe für die eigenmächtige Absage an die Allmacht der Ärzte folgte auf dem Fuße: Zwei Frauen mussten sich vor Gericht dafür verantworten, "Medizin ohne Zulassung" betrieben zu haben.

    Als bald darauf auch hierzulande in Frauenzentren massenhaft Spekula zwecks eigenem Blick auf Scheidenflora und Gebärmutterhals zum Einsatz kamen, reagierte auch die deutsche Ärzteschaft allergisch. Das Deutsche Ärzteblatt rechnete im "Deutschen Herbst" anno 1977 die aufkeimende Frauengesundheitsbewegung kurzerhand zur "Terrorszene".

    Der Wunsch nach Wissen über den eigenen Körper war groß: In EMMA schrieb Alice Schwarzer schon im Mai 1977 über "Die neuen Hexen" — Frauen, die sich von der männerdominierten Schulmedizin ab- und frauenorientierten Methoden darüber zuwandten.

    1980 erschien auch in Deutschland der Buch-Klassiker "Our Bodies, Ourselves", den das "Boston Women's Health Collective" 1971 in Amerika herausgebracht hatte. Deutsche Auflage: 400.000.

    Es war kein Zufall, dass sich die aufbrechenden Frauen zuallererst der Gynäkologie widmeten. Schließlich hatte alles mit dem Kampf um das Recht auf Abtreibung begonnen. Und die so genannte Frauenheilkunde war der Bereich, in dem sich die Kontrolle der - damals überwiegend männlichen - Ärzte über den weiblichen Körper am deutlichsten manifestierte. So prangerte die Frauengesundheitsbewegung zum Beispiel früh die hohe Zahl überflüssiger Gebärmutterentfernungen und die damals noch enormen Nebenwirkungen der Pille an. Sie attackierten die teilweise unwürdigen und unmenschlichen Bedingungen, unter denen Frauen gebären mussten, und sie demonstrierten die Selbstuntersuchung zur Früherkennung von Brustkrebs. Sie wandten sich gegen die Pathologisierung der Wechseljahre und warnten früh vor den epidemisch grassierenden Ess-Störungen. 1984 gab EMMA den ersten Sonderband zum Problem heraus: "Durch dick und dünn".

    Jahre bevor die traditionelle Medizin zu Frauenufern aufbrach, organisierten Feministinnen die Aalternative: Vier Jahre nach dem Feministischen Frauengesundheitszentrum Berlin wurde 1978 ein weiteres in Frankfurt gegründet, bald folgten Hamburg, Bremen und Hannover. Heute existieren in ganz Deutschland 18 dieser Zentren. In Dresden und Cottbus riefen Mitte der 90er Jahre auch ostdeutsche Frauen "Medea" und "Women Life" ins Leben.

    Wie eine EMMA-Umfrage bei den Frauengesundheitszen-tren (FFGZ) ergab, sind die frühen Themen noch immer aktuell: Gewalterfahrungen, Ess-Störungen, Wechseljahre, Brustkrebs und Gebärmutterentfernung stehen auch heute noch im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Aber: Sie sind auf ihrem Durchmarsch durch die Institutionen jetzt ganz oben angekommen. Vor 20 Jahren hätten sich die engagierten Feministinnen nicht träumen lassen, dass im Jahr 2000 der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Prof. Günther Kindermann, auf der Jahreshauptversammlung das Wort ergreifen würde, um zum Kampf gegen sexuelle Gewalt aufzurufen.

    Und dass die erlauchte Gesellschaft in ihrem Kongressbericht Zahlen über Missbrauch und Vergewaltigung veröffentlichen würde, die 20 Jahre zuvor noch als das Hirngespinst hysterischer Feministinnen galten. Zur Jahrtausendwende aber prangerte Präsident Kindermann sexuelle Gewalt als "bürgerlichen Alltag" an, der seine Wurzeln in "jahrtausendealter männlicher Dominanz und männlicher Auffassung von Sexualverhalten" habe. Und schließlich fordert der Gynäkologe: "Unser Fach müsste prädestiniert sein, diesen Mädchen und Frauen Hilfe zu bieten!"

    Den Anfang zum Marsch durch die Institutionen machte die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die bereitete 1988 mit ihrer so genannten Ottawa-Charta zunächst den Boden für ein umfassenderes Verständnis von Gesundheit, nämlich "als den Zustand des vollständigen psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß als Abwesenheit von Krankheit und Leiden." Diese Abkehr vom eng schulmedizinischen Blick machte es leichter, die krankmachenden Lebensumstände von Frauen in die Gesundheitsdebatte ein-zubeziehen.

    Vier Jahre später ging die WHO in die Offensive: "Der Gesundheit von Frauen muss ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Dringlichkeit zugemessen werden", forderte sie. 1994 rief das WHO-Regionalbüro Europa zu einer Konferenz nach Wien. Titel: "Women's Health Counts" - Die Gesundheit von Frauen zählt. Ein Ergebnis der Konferenz war die Aufforderung der WHO an alle Mitgliedsstaaten, natio nale Frauengesundheitsberichte zu erstellen. Denn: "Sogar in den reichsten Ländern Europas gibt es Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung von Männern und Frauen, die nicht zur Kenntnis genommen werden", klagt WHO-Europa-Chefin Dr. Assia Brandrup-Lukanow.

    Der Weg durch die Institutionen ist bekanntlich lang. 1996 Jahre später gab das deutsche Frauenministerium, damals noch unter CDU-Ägide, den Frauengesundheitsbericht in Auftrag. Es dauerte fünf Jahre, bis er erschien. Im selben Jahr, 2001, verabschiedete die WHO-Europa den "Strategie Action Plan for the Health of Women in Europe" und forderte: "Es muss ein noch stärkerer Fokus auf die Gesundheit von Frauen gelegt werden, damit Geschlechtergerechtigkeit in allen Gesundheitsbereichen verwirklicht wird."

    In einem 21-Punkte-Plan legt die WHO Ziele fest, die die Mitgliedsstaaten bis zum Jahr 2015 beziehungsweise 2020 ansteuern sollen. Es sind große Ziele. So sollen beispielsweise Ess-Störungen ebenso bekämpft werden wie die Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Sie sollen Missbrauch und sexuelle Gewalt nicht länger "als ein unumstößliches Faktum in ihrem Leben betrachten, das sie zu erdulden haben". Dabei, klagt die WHO, spielten auch die Medien eine fatale Rolle, die junge Frauen als "exzessiv schlank und sexuell verfügbar darstellen."

    Auf der To-Do-Liste der WHO stehen außerdem: mehr qualifizierte Angebote für Frauen mit psychischen Gesundheitsproblemen, die Reduzierung der Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten, eine bessere Gesundheitsheits-versorgung für alte Frauen. Bedingung dafür, dass all diese Ziele erreicht werden: "Die bestehenden Geschlechterrollen und -normen müssen bekämpft werden." In der Tat.

    Nur: Wie kommen diese hehren und auf geduldigem Papier geschriebenen Ziele jetzt in die Arztpraxen, Kranken häuser und medizinischen Fakultäten? Bis zum Jahr 2003: verlangt die WHO, soll jedes Mitgliedsland ein Aktions-Komitee ins Leben gerufen haben, das die Umsetzung dei Ziele koordiniert.

    Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat kurz nach ihrem Amtsantritt im Januar 2001 — und passend zum Erscheinen des Frauengesundheitsberichts — in ihrem Ministerium das "Referat Frauen und Gesundheit" eingerichtet. Dort soll umgesetzt werden, was seit den letzten Wahlen im Koalitionsvertrag steht, nämlich, dass "Leistungen und Angebote des Gesundheitssystems alters- und geschlechtsspezifischen Erfordernissen angepasst werden müssen" und im Gesundheitswesen "die gesamte Lebenssituation von Frauen berücksichtigt werden muss."

    Dass die Ministerin diesen Vorsatz tatsächlich beherzigt, wird bezweifelt. So beklagt Dr. Astrid Bühren, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB), dass beispielsweise auf die so genannten "Desease Management Programme", kurz: DMPs, überhaupt kein geschlechtsspezifischer Blick geworfen wurde. Diese Programme, die die Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes organisieren, sind komplett geschlechtsneutral formuliert. "Dabei muss man doch gerade bei Diabetes Frauen und Männer ganz unterschiedlich ansprechen", weiß die Ärztin. Denn: "Wer ist denn in den meisten Familien für die Ernährung zuständig? Und wer geht mittags in die Kantine?"

    Auch und gerade bei der geplanten Gesundheitsreform wäre ein Blick auf die geschlechterspezifischen Auswirkungen geboten. Nicht nur, weil Frauen, die immer noch durchschnittlich ein Drittel weniger verdienen als Männer, von den pauschalen Zuzahlungen bei Facharztbesuchen und Medikamenten härter getroffen würden, wie es jüngst nicht nur die Gewerkschaften, sondern Frauenverbände von der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschland bis zum Deutschen Juristinnenbund beklagten. Expertinnen befürchten weitere Auswirkungen: Werden zum Beispiel Patientinnen aufgrund der angekündigten Fallpauschalen künftig früher aus dem Krankenhaus entlassen, weil die Krankenhäuser nicht mehr pro Tag, sondern pro Fall abrechnen, werden Männer in der Regel von der treusorgenden Ehefrau gepflegt - umgekehrt dürfte diese Hilfe eher selten zur Anwendung kommen.

    Das Problem "Mama allein zu Haus" ist laut DÄB-Präsi-dentin Bühren schon jetzt eines. "Frauen nehmen aus genau diesem Grund Rehabilitations-Maßnahmen sehr selten in Anspruch." Beispiel: "Ein Mann, der einen Herzinfarkt hatte, kann problemlos in die Reha - zu Hause läuft ja alles weiter. Eine Frau mit Kindern und berufstätigem Mann lehnt die Reha ab, weil sonst zu Hause alles zusammenbricht." Bühren fordert: "Ärztinnen müssen nicht nur für organische, sondern auch für soziale Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Patienten sensibilisiert werden."

    Damit das tatsächlich passiert, müsse das Thema "Geschlecht" auch in die Approbationsordnung, die übrigens, zu Bührens Bedauern, bezeichnenderweise immer noch "Approbationsordnung für Ärzte" heißt - obwohl mittlerweile zwei Drittel der Studienanfänger im Fach Medizin weiblich sind. Auch das eine Aufgabe für Gesundheitsministerin Schmidt, die kurz nach Amtsantritt die Approbationsordnung reformierte — allerdings im Eilverfahren und ohne Berücksichtigung der Gender-Aspekte. Der Deutsche Ärztin-nenbundhofft optimistisch auf die nächste Novellierung.

    Auch im Frauenministerium, in dessen Haus der Frau-engesundheitsbericht 2001 erschienen ist, stellt sich die Frage: "Wie können wir die Dinge, die jetzt durch den Bericht bekannt geworden sind, im Gesundheitssystem implementieren?" Das Frauenministerium finanziert dazu drei Jahre lang die Bundeskoordination Frauengesundheit (BKF), bestehend aus Ärztin Mareike Koch und Soziologin Regina Jürgens. Die BKF ist ein Projekt des Arbeitskreis Frauengesundheit(AKF), der 1984 von Feministinnen gegründet wurde, um Selsthilfefrauen und Professionelle zusammenzuführen.

    Sie organisieren seit Oktober 2001 Fachtagungen, um Ärztinnen und Krankenkassen mit feministischen Expertinnen aus den Frauengesundheitszentren, Frauenhäusern und -notrufen an einen Tisch zu bringen. In diesem Jahr lautet das Schwerpunktthema der BKF: "Gesundheitliche Folgen von Gewalt", 2004 werden sich die Tagungen dem Thema "Medikamente" widmen.

    Allein die Zusammensetzung des BKF-Beirats zeigt, dass sich hier historische Bündnisse anbahnen: Einträchtig sitzen Bundesärztekammer, Psychotherapeutenkammer und Deutscher Pflegerat neben dem Dachverband der Frauengesundheitszentren, dem Arbeitskreis Frauengesundheit und dem Deutschen Frauenrat. Zur Förderung dieser neuen Vernetzung hat die BKF eine Datenbank mit Institutionen und Referentinnen zum Thema Frauengesundheit eingerichtet. Auch die Bundeszentrale zur gesundheitlichen Aufklärung (BzgA) arbeitet gerade an einer - eher wissenschaftlich ausgerichteten - Datenbank: "Wer forscht im Bereich Frauengesundheit woran?"

    Stichwort Forschung: Das Bundesbildungsministerium hat sich gerade die Erforschung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen auf die Fahnen geschrieben. In Kombination mit Ministerin Bulmahns Programm "Chancengleichheit von Frauen in Forschung und Lehre", das den Professorinnenanteil auf 20 Prozent erhöhen soll (derzeit liegt der Frauenanteil bei den C4-Professuren an den medizinischen Fakultäten bei 2,6 Prozent) hat das schon zu einem erfreulichen Ergebnis geführt: Im Dezember 2002 besetzte Prof. Vera Regitz-Zagrosek in Berlin den ersten deutschen Lehrstuhl, der Herz-Kreislauf-Erkrankungen speziell im Hinblick auf Frauen untersucht.

    Aber auch in den Bundesländern ist Aktivität ausgebrochen. Zumindest in einigen. So haben Berlin und Bremen ihren ersten Länder-Frauengesundheitsbericht geschrieben, die — ganz wie der Bundesbericht — von der Auswirkung des "Erwerbsstatus auf die gesundheitliche Lage" über "Gewalt und Gesundheit von Frauen" bis zu "Lesben — die unsichtbaren Patientinnen" alles behandelt, was von der Gesundheitsberichterstattung schon immer vernachlässigt worden ist. Berlin und Bremen belassen es aber nicht beim bekanntlich geduldigen Papier. Sie organisieren den Austausch an einem "Runden Tisch Frauengesundheit". Auch in Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und München sind solche "Runden Tische" entstanden.

    Der rot-grüne Düsseldorfer Landtag hat sogar eine Enquete-Kommission ins Leben gerufen: "Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW". Im Gegensatz zu den meisten Kommissionen dieser Art, deren Erkenntnisse nicht selten ungelesen und folgenfrei in Aktenschränken zu verstauben pflegen, geht diese unter Vorsitz der Grünen Marianne Hurten an die Front: Immer wieder zitiert sie Vertreterinnen des Gesundheitswesens zu Treffen und Tagungen zwecks "Implementierung" ihrer Themen: Die Wirkung von Medikamenten auf Frauen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der Gesundheitszustand von Migrantinnen, die gesundheitlichen Belastungen von Müttern. Sogar das urfeministische Thema der gesundheitlichen Folgen von Gewalt gegen Frauen steht in Düsseldorf aktuell auf der Tagesordnung.

    Wie gesagt: Die Patientin "Frauenkrankheit" ist eindeutig auf dem Wege der Besserung. Auch wenn der Genesungsprozess «^ noch einige Zeit dauern wird.Chantal Louis
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