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Jean-Paul Sartre : der Schüler Simone de Beauvoirs?

Verfasst von: Fullbrook, Edward
in: EMMA
1995 , Heft: 5 , 89-91 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1995-5-a
Formatangabe: Bericht
Link: Volltext
Verfasst von: Fullbrook, Edward
In: EMMA
Jahr: 1995
Heft: 5
Beschreibung: Ill.
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Ist der Sartresche Existentialismus im Kern von Simone de Beauvoir? Und hat sie selbst versucht, dies zu verschleiern, um ihm die Schöpferrolle zuzuschieben? Nichts weniger als das behauptet das Philosophenpaar Kate und Edward Fullbrook.

Beauvoirs Roman "Sie kam und blieb" (L'invitée) ist das einzige Buch, das mich je dazu brachte, es quer durch den Raum zu schleudern. Als ich es zum erstenmal las, merkte ich noch nichts. Aber als ich es jetzt noch einmal las, begriff ich plötzlich, worum es in diesem Werk wirklich geht: Ich begriff, daß ich 25 Jahre lang die falsche Person als großen Philosophen verehrt hatte. Damals arbeiteten Kate Fullbrook und ich schon seit einigen Jahren an einer Biographie der sexuellen und literarischen Partnerschaft von Beauvoir und Sartre. Seit ihrem Tod in den 80ern waren über beide mehr als ein halbes Dutzend Biographien erschienen, alles schien bereits gesagt. Doch während unserer Recherchen erschienen zwei neue Dokumente: Beauvoirs Briefe an Sartre sowie ihre Kriegstagebücher, die ihre Bisexualität belegten - eine Entdeckung, auf die sich die Medien gierig stürzten. Unser Interesse jedoch galt weniger Beauvoirs Liebe zu Frauen, als eher ihrer wiederholten Verleugnung dieser Liebe.

Der Vergleich ihrer Briefe, Tagebücher und Interviews förderte so manche weiteren falschen Behauptungen zutage. Einige waren nachvollziehbar, andere schienen schlichtweg bizarr. So wie zum Beispiel die ausführliche, aber falsche Erläuterung zu ihrer Biografin Deidre Bair über die Entstehungszeit von "L'invitée". Es geht dabei um die Entstehung des Existentialismus als philosophische Theorie.

Der Existentialismus, dessen Herzstück das Konzept des "sozialen Anderen" ist, ist eine der einflußreichsten Philosophien des 20. Jahrhunderts und lieferte nicht nur die Grundlage für viele Befreiungsbewegungen, sondern ist heute Bestandteil jeder ernstzunehmenden Kulturkritik. Das existentialistische Konzept wurde bisher immer Sartre zugeschrieben, es spielt in seinen nach 1950 entstandenen Werken die Theorie eine Schlüsselrolle. Beauvoir selbst hatte immer wieder jede eigene Urheberschaft oder Beteiligung an Sartres philosophischem Gebäude abgestritten. Doch schon 1986, im Jahr ihres Todes, wurde das von einer amerikanischen Wissenschaftlerin widerlegt. Margaret Simons hatte in den Werken beider nach den allerersten Aufzeichnungenüber das Konzept des "sozialen Anderen" geforscht und die Daten miteinander verglichen. Sie wies nach, daß Beauvoir das Konzept des "Anderen" bereits in "The Ethics of Ambiguity" sowie in "Das andere Geschlecht" ausgearbeitet hatte - Werke, die beide längst erschienen waren, bevor Sartre über die Theorie vom Anderen zu schreiben begann.
Es ist schwer nachvollziehbar, warum diese Entdeckung, die Margaret Simons in der renommierten "Yale French Review" veröffentlichte, so lange unbeachtet bleiben konnte. Beauvoirs Bisexualität hatte viel Aufsehen erregt, aber die Tatsache, daß eine der wichtigsten philosophischen Ideen dieses Jahrhunderts nachweislich von einer Frau entwickelt wurde, wurde noch nicht einmal für medienwürdig befunden. Auch die Sartre-Forscher zogen es vor, Simons unwiderlegbare Beweisführung einfach zu ignorieren.
Aus diesem Grund begannen Kate Fullbrook und ich, die Werke des berühmten Paars unter die Lupe zu nehmen. Und vor unseren Augen begannen alte Legenden zu bröckeln... Beauvoir war die sexuell Aktivere und Unkonventionellere, nicht Sartre war 1929 der erste Mann in Beauvoirs Bett, sondern sie war vorher mit einem seiner besten Freunde liiert gewesen. Nicht Beauvoir, sondern Sartre drängte anfangs auf Heirat. Es war Beauvoir, und nicht Sartre, auf deren Initiative hin das Paar die Duldung weiterer Beziehungen vereinbarte. Als das Paar sich dem 40. Lebensjahr näherte, war es wieder Beauvoir, nicht Sartre, die drohte, ihn für jemanden Jüngeren zu verlassen. - Wenn Beauvoir an so vielen Punkten die Wahrheit verschwiegen hatte, so war vielleicht auch ihre Beteuerung unwahr, an der Entstehung von Sartres philosophischem Hauptwerk, "Das Sein und das Nichts" 1943 (mit dem Sartre seinen Ruf als führender Philosoph begründete, und das in Auseinandersetzung mit den Werken vor allem der deutschen Philosophen Hegel und Heidegger entstand) in keiner Weise beteiligt zu sein?
In der Tat: Wir entdeckten, daß es Beauvoir war, die sich schon in den 30er Jahren der Philosophie explizit zuwandte, während Sartre noch nachhaltig philosophisches Desinteresse bekundete. Beide hatten bereits zu Lebzeiten bekannt, daß Beauvoir - und nicht Sartre - die Expertin auf dem Gebiet der Phänomenologie war und Sartres Deutschkenntnisse nicht ausreichten, um Heideggers (damals nur auf deutsch erhältliche) Schriften darüber selber lesen zu können. In einem späten Interview gaben sie zu, daß Beauvoir die Werke des deutschen Existentialisten bereits 1936 gelesen hatte. Sartre kannte nur die wenigen Passagen, die sie ihm übersetzt hatte. Auch Beauvoirs jüngst erschienenen Briefe und Tagebücher belegen, daß sie es war, die Ende der 30er Jahre Hegel las und analysierte - und nicht Sartre.

Als nächstes interessierte uns die Frage, ob Sartre all das hätte tun können, was er und die Sartre-Forscher für den Zeitraum vom 17. Februar 1940 (als er seine philosophische Idee zum allerersten Mal äußerte) bis Oktober 1942 (als er sein Manuskript"Das Sein und das Nichts" bei einem Verlag einreichte), behaupten. Und siehe da: es ist menschenunmöglich. Auf dem Papier ist Sartre eine Art intellektueller Arnold Schwarzenegger, eine Ausgeburt männlicher Phantasien. Doch in der Realität...
Zu den geistigen Herkulestaten, die Sartre in dieser kurzen Spanne von 32 Monaten zugeschrieben werden, gehören unter anderem: die Lektüre und Analyse der Werke von Hegel und Heidegger; die Erfindung seines eigenen, monumentalen philosphischen Systems; die Verfassung eines Theaterstücks, bei dem er auch noch selbst die Regie und eine Rolle übernahm; die Verfassung und Veröffentlichung eines weiteren Stücks; die Niederschrift von 700 Seiten seines philosophischen Hauptwerks; anderthalb Romane und zahlreiche Zeitungsartikel - sowie: vier Monate als Soldat im Krieg plus neun Monate in Gefangenschaft, Ausbruch aus einem deutschen Gefangenenlager, ein Jahr Arbeit als Vollzeit-Gymnasiallehrer, Organisierung der französischen Widerstandsbewegung gegen die Besetzung Frankreichs durch die Nazis, zahlreiche Liaisons und zuguterletzt eine mehrwöchige Fahrradtour durch Frankreich. Das alles in rund zweieinhalb Jahren...

Meine Bewunderung für Sartre basierte bisher vor allem auf den Ideen seines Hauptwerks "Das Sein und das Nichts". Ich war einem Mann dankbar, dessen Ideen mein eigenes Leben so nachhaltig bereichert hatten. Doch nun war mein Mißtrauen gegen ihn geweckt, und ich beschloß, alle seine Werke nochmal zu lesen. Und ich wurde reich belohnt. Sicher, der metaphysische Wagemut, die logische Stärke und Menschlichkeit seines philosophischen Systems beeindrucken mich genauso wie damals. Aber waren es wirklich sein Wagemut, seine Stärke und seine Menschlichkeit?

In seinen "Kriegstagebüchern" notiert Sartre die genaue Geburtsstunde seines philosophischen Ideengebäudes: Exakt am 17. Februar 1940 sei ihm urplötzlich die Erleuchtung gekommen. Monatelang habe er sich bemüht, ein eigenes philosophisches System zu entwickeln und habe sich sein totales Scheitern eingestehen müssen. Aber an dem Morgen nach seiner Rückkehr von einem elf-tägigen Aufenthalt in Paris, habe ihn aus heiterem Himmel eine jener sagenhaften Phasen männlicher Schaffenskraft überfallen. In den folgenden elf Tagen will unser Philosophen-Held die Umrisse seines philosophischen Gebäudes, "Das Sein und das Nichts", in sein Tagebuch skizziert haben.

Wieder und wieder las ich Sartres Eintrag vom 17.2. Darin spricht er Simone de Beauvoir die Urheberschaft eines "unbedeutenden" philosophischen Details dieses Gebäudes zu. Dieses "Detail" habe er während seiner Parisreise ihrem fertigen, aber noch unveröffentlichten Romanmanuskript "L'invitée" entnommen, das er zur Lektüre dabei hatte. Da fiel mir ein, daß Beauvoir ihre Biographin Deidre Bair davon überzeugt hatte, sie habe zu diesem Zeitpunkt noch kaum eine Zeile von dem Roman zu Papier gebracht. Aber ihre posthum veröffentlichten Briefe widerlegten diese Behauptung.
Ich griff zu "Sie kam und blieb": Binnen 40 Minuten hatte ich die Passage mitten in Beauvoirs Roman gefunden, die in einer Miniaturform den zentralen Gedanken des Konzepts vorstellt, das Sartre übernahm, und zwar gründlich. Beauvoir erwähnt in ihren Tagebüchern übrigens mindestens acht Abende, die Sartre in Paris der Lektüre ihres Manuskripts gewidmet hatte. Doch ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, wie er diesen kleinen philosophischen Goldklumpen in Beauvoirs Roman als die zentrale Idee eines Gesamtkonzepts hatte erfassen können. Oder hatte er etwa Beauvoirs ganzen Roman als einen philosophischen Text gelesen, wie dies auch für seinen eigenen Roman "Der Ekel" gilt? Wir nahmen uns nochmal "Sie kam und blieb" vor und lasen Satz für Satz. In der Tat, es handelte sich bei diesem Roman gleichzeitig um einen philosophischen Text! Bereits am Ende des ersten Kapitels hatten wir einen logischen, klaren Abriß der zentralen Argumente von "Sartres" Existentialismus vor uns.

Plötzlich wurde uns klar, daß Sartre an den besagten elf Tagen lediglich das philosophische System, das er in Beauvoirs Manuskript vorfand, in sein Tagebuch übertragen hatte. Und daß er uns fast ein halbes Jahrhundert lang getäuscht hatte - mit ihrer Hilfe. Der Sartre'sche Existentialismus ist in Wahrheit Beauvoirs Existentialismus.
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