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Dies ist die Geschichte von Alice Guy, die den Spielfilm erfand

Verfasst von: Klett, Renate
in: EMMA
1978 , Heft: 6 , 42-46 S.

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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1978-6-a
Formatangabe: Porträt
Link: Volltext
Verfasst von: Klett, Renate
In: EMMA
Jahr: 1978
Heft: 6
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Dies ist die Geschichte von Alice Guy, die den Spielfilm erfand

Kleines Spiel für Kinogänger: Frag mal Leute, die sich in der Filmgeschichte auskennen, nach Lumièrc, Méliès oder Zecca. Sie werden dir vom Kinomatographen erzählen und von den ersten Filmen, die mit ihm aufgenommen wurden, von der "Ankunft des Zuges", der "Reise zum Mond", der "Geschichte eines Verbrechens". Dann frag sie nach Guy. Wer, bitte? Nie gehört. Sieh in den vielen Büchern über die Pionierzeit des Films nach: in einem einzigen (Sadoul) wird der Name mit Herablassung erwähnt, alle anderen verschweigen ihn. Warum? Die Antwort ist einfach: Guy hieß nicht Louis oder Georges oder Ferdinand, sondern - Alice. Grund genug, für die von Männern geschriebene Filmgeschichte, sie zu vergessen. Ihre Filme, die nicht signiert waren, wurden, da wo sie erwähnt werden, kurzerhand männlichen Regisseuren zugeschrieben: "La premiere cigarette" zum Beispiel einem gewissen Emile Cohl, der überhaupt erst drei Jahre später in die Firma Gaumont eintrat. Und "La Esmeralda" (1905), die allererste der vielen Verfilmungen des "Glöckners von Notre-Dame", galt jahrzehntelang als Meisterwerk Victorin Jassets. Auch der erste Monumentalfilm der Gaumont "Das Leben Christi" aus dem Jahre 1906, konnte ja nur von einem Mann gedreht sein. Also musste wieder Jasset herhalten, der in Wirklichkeit lediglich Statistenführer war. Zwar sind diese Fälschungen mittlerweile korrigiert, doch genützt hat es wenig, Alice Guy blieb im Dunkeln. Sie ist den meisten Historikern bis heute nicht einmal eine Fußnote wert - dabei war sie doch die erste und siebzehn Jahre lang die einzige Frau der Welt, die Filme drehte! 1895, zur Geburtsstunde des Kinos, ist Alice Guy 23 Jahre alt, unverheiratet und arbeitet als Sekretärin des Filmproduzenten Leon Gaumont. Ihr Leben war bis dahin ungewöhnlich bewegt gewesen (was sicherlich auch ihre spätere Kraft erklärt): Geboren 1873 bei Paris lebte sie zunächst bei ihrer Großmutter, bis sie dann als Vierjährige von ihren Eltern, die dort eine Buch- Handlung hatten, nach Chile geholt wurde. Zwei Jahre danach wurde das kleine Mädchen nach Europa zurückgeschickt und kam in eine Klosterschule an der Schweizer Grenze, wo sie sechs Jahre lang nur unglücklich war. Später wurde sie in Paris eine der ersten Stenotypistinnen, erst in einer Lackfabrik, dann bei Gau-mont. Alice war auch zu der Zeit noch sehr schüchtern und schamhaft. Noch Jahre später errötet sie, wenn die Statisten sich umziehen. Ihre Ideen aber sind kühn: Während die Männer Militäraufmärsche und die Reisen gekrönter Häupter ablichten, erfindet Mademoiselle Alice ganz einfach den Spielfilm. In ihrer Autobiographie erinnert sie sich: "Ich wappnete mich mit Mut und schlug Gaumont schüchtern vor, ein oder zwei kleine Szenen zu schreiben und sie von Freunden spielen zu lassen. Wenn jemand die Entwicklung vorausgesehen hätte, die diese Sache nehmen würde - ich hätte niemals seine Einwilligung bekommen. Meine Jugend, meine Unerfahrenheit, mein Geschlecht, alles sprach gegen mich. Trotzdem erhielt ich sie, unter der ausdrücklichen Bedingung, dass sich das nicht auf meine Arbeit als Sekretärin auswirken dürfe."

Sie dreht - auf einer verwahrlosten Terrasse, vor einer gemalten Kulisse, mit zusammengeliehenen Kostümen und Kohlköpfen aus Pappe - ihren ersten Film: "La fée aux choux". 17 Meter Filmgeschichte, in denen die gute Fee für das Jungverheiratete Paar ein Baby aus dem Kohlkopf hervorzaubert. Sie selbst und zwei Freundinnen sind die Darsteller.

Es ist "kein Meisterwerk", wie sie selbst schreibt, aber es ist einer der frühesten Regiefilme, vielleicht sogar der allererste. Eindeutig ist es nicht feststellbar, weil es Unstimmigkeiten über das Entstehungsjahr gibt. Sie selbst datiert "Die Fee in den Kohlköpfen" auf 1896, betont, vor Méliès begonnen zu haben. Francis Lacassin, einer der wenigen Filmhistoriker, die es überhaupt für nötig befanden, das Werk der Alice Guy zu erforschen, rekonstruiert anhand von Dokumenten das Jahr 1900. Dass selbst dieser harmlose Streifen ihr zeitweise ab- und dem Schauspieler Henri Gallet zugesprochen wurde, sieht allerdings nach einem Indiz dafür aus, dass es sich dabei tatsächlich um den ersten Spielfilm der Welt handelt. Das Kino, vom Publikum mit einer Mischung aus Neugier und Verachtung aufgenommen, ist zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt vom Kunstanspruch. Es werden vor allem Dokumentarfilme gedreht, Spielhandlungen werden nur von wenigen und im Hause Gaumont einzig von "Mademoiselle Alice" auf die Leinwand gebracht. Die künstlerische Leitung der Firma wird ihr übertragen, sie ist Regisseurin, Drehbuchautorin, engagiert die Schauspieler und Ausstatter, kümmert sich um Beleuchtung und Kostüme, um Schnitt und Zwischentitel - nie wieder in der Geschichte des Films hat eine Frau so viel Macht wie sie. Aber es ist eine Macht auf Abruf, die ihr nur zugestanden wird, solange der Film kein Prestige hat. Kaum zeichnen sich die künstlerischen und kommerziellen Möglichkeiten ab, die in dem neuen Medium stecken, versucht man von allen Seiten, ihren Einfluss zu beschneiden. Da ist sie dann plötzlich nicht mehr die erfolgreiche Regisseurin, sondern nur eine Frau, der man vorwerfen darf, sie hege für Statisten "andere als berufliche Interessen", sie besitze nicht genügend Autorität etc. etc. Dabei hat sie bis 1906 zirka 200 Filme zwischen 20 und 600 Meter Länge gedreht, die meisten davon nach eigenen Szenarien. Wie ihre männlichen Kollegen (und manchmal noch vor ihnen) experimentiert sie mit den technischen Möglichkeiten der neuen Kunst, wie sie entdeckt und verwendet sie Mehrfachbelichtungen, Auf- und Abblenden, Zeitlupe und Zeitraffer, Rückwärtsmontagen, Aufnahmen mit verschiedenen Brennweiten. Aber anders als jenen wird ihr das von kaum einem der späteren Filmhistoriker als Verdienst angerechnet. Sie arbeitet anfangs allein, dann mit Assistenten; einer von ihnen ist Louis Feuillade, dessen Talent sie früh erkennt und nach Kräften fördert. Sie inszeniert Melodramen und Slapsticks, inspiriert sich an Grand Guignol-Stücken, Zeichnungen und eigenen Erlebnissen. Sie dreht im Studio und auf der Straße, in Wäldern und an Originalschauplätzen. Für "Volée par les bohemiens" (1904) zieht sie in ein echtes Zigeunerlager, was ihr anonyme Drohungen einbringt. In Nimes filmt sie einen Stierkampf. Bei der "Passion" verpflichtet sie -ungeheuer für die Zeit - dreihundert Statisten und lässt 25 verschiedene Dekors aus Holz bauen. Sie ist einer der ersten Regisseure, die Opern verfilmen mit Hilfe des Chronophons, eines komplizierten Verfahrens, bei dem die Stimmen der Akteure auf Wachsplatten aufgenommen und synchron mit dem Film abgespielt werden. Bei all dem bleibt sie äußerlich die junge Frau der Belle Epoque mit Korsett und Rüschen und Hütchen und Handschuhen. Doch die Courage und Aktivität, die sie hinter der scheinbaren Anpassung verbirgt, jagen manchem Angst ein. In ihren Memoiren schreibt sie, dass Herbert Blache, ihr späterer Mann, ihr gestand, niemals "eine Frau von so kaltem und distanziertem Wesen" getroffen zu haben. Schuldbewusst kommentiert sie: "Sicher hatte er recht. Noch jung, in einem Beruf, wo ich den Beweis der Autorität erbringen musste, vermied ich alle Familiarität. Mit meinen persönlichen Freunden wie Feuillade, für den ich eine große Sympathie hatte, fand ich meine wirkliche Persönlichkeit wieder. Meine Jugend und meine Fröhlichkeit gewannen schnell die Oberhand."

1907, nach elf Jahren Filmkarriere, heiratet sie und wird Hausfrau und Mutter. Sie ist 34, ihr Mann neun Jahre jünger und Ausländer - auch im Privaten sind ihre Entscheidungen ungewöhnlich. Sicher ist es das, was man "eine große Liebe" nennt, aber es ist wohl auch eine Flucht vor den wachsenden Schwierig^ keilen, die ihr als Frau bei der Arbeit gemacht werden. Jedenfalls gibt sie alles auf, gebärt eine Tochter, geht mit ihrem Mann nach Berlin, dann nach Cleveland, wo er die amerikanische Zweigstelle der Firma Gaumont übernimmt. Blache, der Engländer ist, gewöhnt sich schnell ein, sie nicht. Er hat seine Arbeit, seine Freunde und Kollegen, sie hat das Kind, die Wohnung und Sprachunterricht. Was für eine Umstellung! Sie, ,,la princesse", die Tüchtige, die vom Filmmetier viel mehr versteht als ihr Mann, ist im fremden Land nur noch "Madame Blaché". Drei Jahre hält sie es aus, dann gründet sie 1910 die Filmgesellschaft Solax und mietet ein Studio: ihre zweite Karriere beginnt. In den folgenden zehn Jahren dreht sie über 70 mittlere und lange Filme in den verschiedensten Genres: Melodramen, Komödien, Western, Krimis, Militärszenen, Literatur- und Opern Verfilmungen. Schon 1912 ist ihr Erfolg so groß, dass sie in Fort Lee, New Jersey, eigene Studios bauen lässt. Dort erfindet Alice Guy, inzwischen Mutter eines zweiten Kindes, Szenen, die so tollkühn sind, dass ihr Mann ihr die Realisation verbietet, sie selbst übernimmt oder männlichen Regisseuren überträgt. So eine Sprengung mit Dynamit für "Dick Whittington and his Cat" (1913) oder den Brand eines Autos in "Mickey's Pal" (1912 - es ist das erste von Millionen Autos, die noch in amerikanischen Studios brennen sollten). 1912 dreht sie eine feministische Komödie "In the Year 2000", in der Frauen die Erde beherrschen und die Männer zu ihren Untertanen machen. Sie beweist auch, dass sie mit gefährlichen Situationen viel kaltblütiger umgehen kann als ihre Mitarbeiter: als bei den Außenaufnahmen für "The Beast of the Jungle" (1913) ein gezähmter Tiger ausbricht, ist sie es, die ihn mit einem Stock in den Käfig zurücktreibt. "Ein Regisseur darf kein Hasenfuß sein", sagt sie und legt sich mit Todesverachtung eine Schlange um den Hals, weil der Darsteller eines Hindupriesters nur unter dieser Bedingung seine Rolle akzeptiert. Realismus und Wahrhaftigkeit sind ihr oberstes Gebot; in allen Studios
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