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Oh Virginia

Verfasst von: Wittlich, Angelika
in: EMMA
1977 , Heft: 1/2 , 53-55 S.

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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1977-1-a
Formatangabe: Porträt
Link: Volltext
Verfasst von: Wittlich, Angelika
In: EMMA
Jahr: 1977
Heft: 1/2
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
1891. Virginia ist neun Jahre alt. Ihre Schwester Vanessa ist zwölf. Sie werden zu Hause unterrichtet, von ihren Eltern und von Hauslehrerinnen. Und sie haben weibliche Fertigkeiten zu lernen: Musik, Malen, Tanzen. Ihre Tanzlehrerin trägt schwarzen Satin, hat ein Glasauge und einen Stock. Sie will ihnen graziöses Verhalten beibringen. Vanessa und Virginia langweilen sich tödlich. Ihr Bruder Thoby, elf Jahre alt, geht zur Schule und lernt Griechisch.

Jahre später: Vanessa, dann Virginia werden in die >Gesellschaft< eingeführt. Nach einer guten Partie ist auszuschauen. Vanessa findet es öde. Virginia ist entsetzt. Sie fällt aus der Rolle. Sie spricht über für Frauen Ungehöriges. Über Platos >Gastmahl< zum Beispiel. Man ist schockiert. Frauen haben in Gesellschaft besser zu schweigen. Bruder Thoby studiert inzwischen und gehört zur intellektuellen Avantgarde in Cambridge.
Virginia und Vanessa wehrten sich gegen ein enges Frauenleben: Vanessa wollte Malerin werden, Virginia Schriftstellerin. Denn in ihrer Familie hatte man sich seit Generationen mit Schreiben und Kunst beschäftigt - sogar einige Frauen. Sie gehörten zur oberen Mittelschicht, deren Söhne in Cambridge studieren und deren Töchter ebenso selbstverständlich gut, aber für Ehe und Familie erzogen wurden. Virginia empörte das. An ihrem Bruder erfuhr sie, welche intellektuellen Möglichkeiten ihr nur wegen ihres Geschlechts verschlossen bleiben sollten. Sie griff zur Selbsthilfe, sie las sich durch die Bibliothek ihres Vaters und sie begann früh und regelmäßig zu schreiben.
Bereits 1897 plante sie eine >Geschichte der Frauen<. Was zeigt: Virginia war sich sehr früh ihrer Lage als Frau bewußt. Dennoch wagte sie, Schriftstellerin zu werden. Aber sie hatte nicht die Kraft, alle weiblichen Normen zu sprengen. Sie litt darunter, daß eine Frau zu wählen hat. (Ergreift sie einen >Männerberuf<, hat sie kaum Recht auf privates Glück). »Ich will alles«, schrieb Virginia, »Lieben, Kinder, Abenteuer, Intimität, Arbeit.« Aber das ist in dem für Frauen abgezirkelten Lebensbereich kaum hinzukriegen. Auch Virginia scheiterte. Und deswegen schreibe ich über sie. Denn sie steht nicht allein. Ihre Kämpfe sind >weiblich<. Wie sie versuchten viele Schriftstellerinnen, ihre Arbeit mit der ihnen diktierten >Weiblichkeit< zusammenzubringen. Der Preis war hoch.

Virginia wuchs auf zu einer Zeit, als in England militante Emanzipationskämpfe tobten. Das war auch ihr Kampf. Virginia arbeitete für die Suffragetten. Aber sie war bürgerlich und scheute die offene Konfrontation. Sie hielt Vorträge, setzte sich für das Frauenwahlrecht ein, schrieb Briefumschläge für die Suffragetten-Organisation. Und sie schrieb bewußt feministische Texte: »Frauen beginnen ihr eigenes Geschlecht zu erforschen, Frauen zu beschreiben, wie Frauen noch nie zuvor beschrieben worden sind. Denn bis vor kurzem waren Frauen in der Literatur natürlich die Schöpfung von Männern.«

Schon zu Virginias Lebzeiten war klar, sie war eine der großen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie tat, was nur wenigen Frauen in der Geschichte der Literatur gelang - sie erneuerte das Erzählen. Sie brach mit dem konventionellen Roman, verzichtete auf durchgehende Handlungen, scharf umrissene Charaktere. Ihre Figuren bestehen aus Träumen, Gedanken, Empfindungen, aus einsamen Selbstgesprächen und Erinnerungen, aus Wahrnehmungen von Geräuschen, Düften, Jahreszeiten und Landschaften. Einige ihrer Romane erschließen sich deswegen nur schwer. Sie sind wie eine vom Nebel verhangene Landschaft, wie ein Traum. Undeutlich die äußeren Konturen, aber überdeutlich die Gefühle, Gedanken und Assoziationen des Augenblicks. Virginia spricht vom »psychologischen Satz des weiblichen Geschlechts: Er besitzt eine dehnbarere Faser, . . . fähig, sich bis zum Extrem zu dehnen, dabei die zartesten Teilchen zu stützen und die vagesten Umrisse zu umschließen«. Virginias präzise Beobachtungsgabe gilt dem klassischen weiblichen Bereich: der Welt der Gefühle und Stimmungen. Und sie entdeckt mit satirischer Genauigkeit männliche Absurdität und Eitelkeit.

Erst mit 33 Jahren publizierte Virginia ihren ersten Roman. Sie hatte sieben Jahre an ihm gearbeitet. Ihr Anspruch an literarische Qualität und an sich selbst war radikal. Vor der Publikation wurde sie vor Angst krank. Sie fürchtete, daß ihr Schreiben für eine Verrücktheit gehalten würde. Sie war so verzweifelt, daß sie einen Selbstmordversuch machte.

»Sie lehnt das Besitzergreifende und den Herrschaftsanspruch der Männer ab. Sie mag Männlichkeit einfach nicht.« Das schrieb Vita Sackville-West, Virginias Freundin und Geliebte in den zwanziger Jahren. Virginia beugte sich auch in der Liebe nicht der Norm. Als sie jung war, gehörte all ihre Leidenschaft und Zärtlichkeit nur Frauen. Sie hatte sich nie von einem Mann erotisch angezogen gefühlt. Aber sie konnte sich ein Leben ohne den sozialen Schutz des Mannes nicht vorstellen. Sie wollte heiraten. Leonard Woolf war auch Schriftsteller. Er verliebte sich leidenschaftlich in Virginia. Sie waren Nachbarn und sie hatten ein gemeinsames Programm: sie schrieben jeden Morgen fünfhundert Wörter. Virginia zögerte, ihn zu heiraten. Sie schrieb: »Wie ich dir schon neulich brutal sagte, ich fühle mich von dir nicht sexuell angezogen.« Aber schließlich heiratete sie.

Und sie hatte Glück. Leonard unterstützte ihre Arbeit. Als sich Virginia zu Anfang ihrer Ehe Kinder wünschte, war es Leonard, der meinte, sie sei nicht dafür geschaffen. Und Leonard akzeptierte auch ihre Beziehungen zu Frauen. Selbst ihre Liebe zu Vita Sackville-West, der sie eins ihrer schönsten Bücher widmete: >Orlando<. In diesem Text überwindet sie die Frauenrolle, die ihr im Leben so zu schaffen machte, schafft die Geschlechter überhaupt ab. Der Mann Orlando wird im Laufe des Romans zu einer Frau, liebt Männer und Frauen, wechselt schließlich beliebig das Geschlecht. Hier verarbeitet Virginia in der Literatur einen Kampf, den sie im Leben teuer bezahlte.

In einer Depression schrieb Virginia 1911 an Vanessa: »29 Jahre, unverheiratet, ein Versager, kinderlos, krank, kein Schriftsteller.« Das waren ihre Ängste. Sie überwand sie nie. Ihren ersten Zusammenbruch hatte sie mit 13 Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter. Sie hörte Stimmen, ihr Puls raste, sie wurde nervös und depressiv, sie verlor den Verstand. Das wiederholte sich in allen Krisen. Nach dem Tod des Vaters und immer wieder vor dem Erscheinen fast jeden Buches. Zwei Ängste plagten sie vor allem. Zunächst, in ihrer Arbeit zu versagen. 1937, vor der Veröffentlichung von >Die Jahre< - sie war längst eine berühmte Schriftstellerin - schrieb sie: »Ich werde ausgelacht, verspottet, lächerlich gemacht werden.«
Dann: als Frau die >weibliche< Rolle verfehlt zu haben. 1926 notierte sie: »Ich wachte um drei Uhr auf. Es fängt an, es kommt - der Horror, körperlich wie eine schmerzhafte Welle, die über dem Herzen anschwillt - es zieht mich hoch. Ich bin unglücklich, unglücklich! Hinunter - Gott, ich wünsche ich wäre tot. Pause. Aber warum fühle ich so? Laß mich schauen, wie die Welle sich hebt. Ich beobachte. Vanessa. Kinder. Versagen. Ja, ich entdecke das. Versagen, Versagen.«
Ihre Krankheiten waren qualvoll. Sie konnte monatelang nicht mehr schreiben.

1940: eine weitere Bedrohung. Die Nazis führten ihren Krieg siegreich, eine Invasion Englands schien nicht ausgeschlossen. Leonard war nicht nur Jude, er war auch Sozialist. Sie dachten an gemeinsamen Selbstmord bei einem deutschen Sieg. Virginia beendete ihr letztes Buch >Zwischen den Akten<. Wieder kam ihre Krankheit, schlimmer als je zuvor. Sie wollte nicht, daß ihr Buch veröffentlicht wurde. Am Tag vor ihrem Tod gestand sie ihrer Ärztin, sie fürchte sich vor der Krankheit und daß sie nicht mehr würde schreiben können. Am 28.3.41 ging sie zum nahen Fluß, einen großen Stein in der Manteltasche und ertränkte sich.

Oh Virginia. Keine hat so genau über die Frauen und das Schreiben nachgedacht wie du. Kaum eine hat so daran gelitten wie du. Aber kaum eine hat uns auch so viel gegeben.
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