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Irmtraud Morgner ist tot

Verfasst von: Schwarzer, Alice info
in: EMMA
1990 , Heft: 6 , 32-33 S.

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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1990-6-a
Formatangabe: Nachruf
Link: Volltext
Verfasst von: Schwarzer, Alice info
In: EMMA
Jahr: 1990
Heft: 6
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Irmtraud Morgner ist tot

Irmtraud Morgner wurde am 11. Mai um 15 Uhr auf dem Zentralfriedhof von Ost-Berlin beerdigt. Auf ihren Wunsch sprachen zwei RednerInnen: Gerhard Wolf, Literaturwissenschaftler und Alice Schwarzer. Dies ist der Nachdruck ihrer Rede.

Im 26.Kapitel ihres Hexenromans AMANDA beschreibt Irmtraud Morgner die Folterung und Hinrichtung des Attentäters Damiens, der Ludwig XV. allerdings kaum wirklich verletzt, sondern nur leicht mit dem Messer geritzt hatte. Das geschah zu einer Zeit, in der der Haß des Volkes auf den König so groß war. daß das Gerücht ging, der König bade in Kinderblut... Dennoch wurde der Attentäter unter dem Gejohle der Massen stundenlang aufs grausamste gefoltert und zuletzt gevierteilt. Die Pferde schafften es jedoch nicht, den Körper zu zerreißen. Der Henker Samson mußte nachhelfen und die Gelenke einschneiden.

Irmtrauds Henker heißt Krebs. Er half nach. Das lange Leiden der Dichterin wurde zwar nicht vom Gejohle der Massen begleitet, aber von ihrem schweigenden Desinteresse. Auch das kann weh tun.

Irmtraud hätte länger leben können. Sie ging zu spät zum Arzt. Zu spät, weil sie die inzwischen längst auch körperlichen Schmerzen für nur seelische hielt: Für Leiden an den Verhältnissen, gegen die sie bis zuletzt gekämpft hat.

Morgners Vergehen war schwerer als das von Damien. Sie stiftete an zum Aufruhr - und sie tut es noch. Sie ist eine Aufwieglerin, eine Hexe. Ihr lebenslanger Kampf war der gegen die Teilung der Welt und die des Menschen. Dieser Kampf geht weiter in ihrem Werk. "Mein Antrieb wäre es nicht, Kunst zu machen," hat sie einmal gesagt. "Mein Antrieb wäre es, Welt zu machen - natürlich mit der größtmöglichen Wucht an Worten." Die Wucht ihrer Worte hat Irmtraud Morgner vor allem gegen die Teilung der Frauen eingesetzt. Eine Teilung, die sie selbst überwunden hat - aber um welchen Preis... Es hätte diese Dichterin deutscher Sprache vielleicht nicht gegeben ohne den Versuch des Sozialismus in dem einen Teil Deutschlands. In Morgners Elternhaus gab es kein einziges Buch. Und in der häuslichen Enge ihrer Kindheit hagelte es vor allem Entmutigungen und Demütigungen.

Daß eine Irmtraud Morgner dennoch wachsen konnte, das verdankt sie vor allem den Lehrern, die nach 1945 aus dem Exil zurückkamen. Doch so groß damals die Hoffnungen und ihr Glaube waren, so groß wurde später ihre Verzweiflung. Mit zunehmender Wucht schrieb sie dagegen an. Mit Geschichten von gewaltigster Art - und gewaltigster Komik.

"Mein zentrales Thema ist der Eintritt der Frauen in die Historie", hat sie, diese Neuschöpferin unserer Geschichte, einmal gesagt. Den Weg versperrte ihr die Teilung. Die Teilung ihrer Stadt durch die Mauer. Die Teilung der Gesellschaft in Befehlende und Gehorchende. Die Teilung der Geschlechter in Männer und Frauen. Und die Teilung der Frauen selbst: in dumm, devot und begehrenswert - oder klug, aufsässig und häßlich. Sie wußte: ,,Die Frauen leben nicht nur im Patriarchat - es lebt auch in ihnen." Irmtraud Morgner geht in einer Zeit des Aufbruchs. Es gibt nicht viele, die gerade jetzt so lebenswichtig für ihr Land wären wie diese Dichterin und Philosophin und wir Frauen verlieren mit Morgner nicht nur ein weibliches Genie, sondern auch eine feministische Visionärin. Morgner dachte "das Mögliche von Übermorgen" - ohne das Unmögliche von heute zu übersehen. Morgners Preis: eine, wie sie selbst sagte, "gnadenlose Einsamkeit". Ein paar Menschen allerdings gab es schon, die bis zuletzt für sie da waren... Ich persönlich verliere mit Irmtraud Morgner eine wirkliche Freundin. Sie hat mich in den letzten 15 Jahren immer wieder zum Weiterdenken ermutigt und dabei begleitet. Sie hatte, trotz allem, einen unbändigen Spaß am Leben. Sie konnte so umwerfend komisch sein! Ich glaube, die meiste gemeinsame Zeit haben wir, auch in dunklen Momenten, voller Lebenslust verbracht.

In den Monaten vor ihrem Tod habe ich ein Gespräch für EMMA mit ihr gemacht. Zur Veröffentlichung schrieb sie einen Brief an die EMMA-Leserinnen, der mit den Worten schloß : "Falls dies mein letztes Interview sein sollte, nehmt es nicht als mein letztes Wort: Das steht vielleicht irgendwo in meinen Büchern." Die wirkliche Entdeckung der Bücher von Irmtraud Morgner steht uns noch bevor. - Darauf dürfen wir uns freuen.
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